"Wir füllen die Lücke, die bisher bestanden hat"
Medienschaffende, die sich mit Themen rund um Islam und Muslime beschäftigen, kennen das Problem. Wer Sachverhalte einordnen lassen möchte, findet schwer Fachleute, die bereit sind, Fragen zu beantworten - und dies nicht allein vor laufender Kamera. Daher helfen sich Journalistinnen und Journalisten oft aus der Patsche, indem sie die altbewährten "Experten" zu Wort kommen lassen. Auch dann, wenn ihnen bekannt ist, dass die, die sich für Interviews und Statements zur Verfügung stellen, aber nicht immer über die entsprechende Expertise verfügen.
Das soll sich ändern. Und dazu will die "Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft" (AIWG) beitragen. So heißt die Institution, die im Herbst 2017 in Frankfurt am Main ihre Arbeit offiziell aufnahm, und sich als eine der ersten Aufgaben vorgenommen hat, eine Expertendatenbank aufzubauen.
Wer aus der Medienbranche auf der Suche nach Fachleuten ist, die sich zur islamischen Theologie oder auch zu muslimischen Praktiken und Alltagsfragen äußern können, wird es also künftig einfacher haben. Die Expertendatenbank soll islamische Theologen und Wissenschaftler enthalten, die an deutschen Hochschulen forschen und lehren. Die AIWG will mit Medientrainings diesem Personenkreis fit für den Umgang mit Journalistinnen und Journalisten machen.
Öffentliche Debatten über Islam und Muslime versachlichen
Die "Akademie" möchte dazu beitragen, "die öffentlichen Debatten zum Islam zu versachlichen". So sperrig und abstrakt der Name dieser Institution auch klingen mag und so schwer sich auf Anhieb erklären lässt, was sich hinter dem Kürzel aus vier Buchstaben verbirgt: Die AIWG ist einmalig in Deutschland.
Als eine universitäre Plattform für Forschung und Transfer in islamisch-theologischen Fach- und Gesellschaftsfragen hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die islamisch-theologische Forschung zu fördern, den Austausch zwischen der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft voranzutreiben und eben auch insbesondere zur Versachlichung der Islam-Debatten in Deutschland beizutragen.
All das soll über Programme und Projekte erfolgen, "die nach intensiven und umfangreichen Gesprächen mit islamischen Theologen, Wissenschaftlern und Vertretern der muslimischen Zivilgesellschaft" zusammengestellt worden sind. "Wir füllen die Lücke, die bisher bestanden hat", erklärt AIWG-Geschäftsführer Jan Felix Engelhardt.
Die AIWG koordiniert und fördert Forschungsaktivitäten von Wissenschaftlern aus den zehn Hochschulen in Deutschland, die islamisch-theologische Studien zu islam- und religionsbezogenen Themen betreiben. Als "Schnittstelle von Theologie, Wissenschaft und Gesellschaft" finanziert sie auch unterschiedliche Formate für den Austausch – unter Wissenschaftlern und zwischen ihnen und den Akteuren der muslimischen Zivilgesellschaft.
Finanziert wird die AIWG bis zum Jahr 2022 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Stiftung Mercator. Während das BMBF rund 8,5 Millionen Euro für die Umsetzung der Wissenschaftsformate stellt, fördert die Stiftung Mercator mit rund 3 Millionen Euro die sogenannten Transferformate der Akademie. Dazu gehören unter anderem Roundtable-Gespräche in kleinem Rahmen.
Gefördert werden ein- und mehrjährige Forschungsprojekte
Nach einer einjährigen Aufbauphase hat die AIWG, deren Geschäftsstelle an der Frankfurter Universität angesiedelt ist, einige der geplanten Vorhaben gestartet. "Linked Open Tafsir", ein auf vier Jahre angelegtes Projekt, ist eines davon. Es startete im September 2018. Unter der Leitung von Professor Ömer Özsoy (Uni Frankfurt), Professor Yasar Sarikaya (Uni Gießen) und Professor Serdar Kurnaz (Uni Hamburg) arbeitet eine Gruppe von Wissenschaftlern an einer online abrufbaren Datenbank frühislamischer exegetischer Überlieferungen.
Als Grundlage dient nach Auskunft von Engelhardt der Kommentar des muslimischen Gelehrten At-Tabarī, "der als vollständigste Sammlung aller Anfang des 10. Jahrhunderts vorliegenden Berichte zum Koran und seinem Offenbarungskontext gilt". Die Online-Datenbank soll langfristig eine solide Forschungsgrundlage für wissenschaftliche Überlegungen zur Offenbarungsdynamik des Korans in der frühen Exegese bilden.
Neben "Linked Open Tafsir" fördert die AIWG ein weiteres, ebenfalls auf vier Jahre angelegtes Projekt: "Normativität des Korans". Erforscht wird von einem Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Erlangen-Nürnberg und Tübingen das Verhältnis von Norm und Ethik im Koran. Der Fokus der Forschung ist auf die praktischen Fragestellungen für Muslime in Deutschland gerichtet. Analysiert wird "die Selbstbestimmung des Individuums als ethisches Prinzip in den klassischen und modernen Rezeptionen dieser Normenverse".
Seit September vergangenen Jahres arbeiten, gefördert von der AIWG, Forschungsteams zum Thema "Religiöse Diversität in Curricula der islamisch-theologischen Studien" und zu "Religion, Diversität und Soziale Arbeit". Eine dritte Gruppe erstellt im Rahmen des Projekts "Theologisch-religionspädagogische Orientierungshilfe für Fragen muslimischer Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte" einen Leitfaden, "in dem kontroverse und für junge Muslime relevante Themen der islamischen Theologie didaktisch für den islamischen Religionsunterricht in Bayern aufbereitet werden".
Metoringprogramm für muslimische Nachwuchstalente
Einmalig im deutschsprachigen Raum ist nach Auskunft von Engelhardt "MENTi", das Mentoring-Programm des AIWG. Es fördert muslimische Nachwuchstalente aus Islamischer Theologie und Zivilgesellschaft. Bis 2022 werden in drei Runden 60 Tandems gebildet – zwischen Mentees, die aus den islamisch-theologischen Studien stammen oder Akteure in der muslimischen Zivilgesellschaft sind, und Mentorinnen oder Mentoren unter anderem aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur.
Das Programm ziele darauf ab, die gesellschaftliche Teilhabe von muslimischen Akteuren zu erweitern und zu stärken, öffentliche Diskurse über Islam und Muslime zu bereichern und "zum selbstverständlichen Umgang mit religiöser Pluralität" beizutragen.
Die Idee zur AIWG hatte Professor Bekim Agai kurz nachdem er seine Stelle an der Goethe-Universität in Frankfurt antrat. Der Islamwissenschaftler leitete von 2013 bis 2017 als geschäftsführender Direktor an der Frankfurter Universität das Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam.
"Ich stellte fest, dass das Fach Islamische Theologie mit einer Reihe von Erwartungen konfrontiert ist und dass viele Kolleginnen und Kollegen ob des Alltagsgeschäfts und mangelnder Strukturen diesen in der Summe gar nicht gerecht werden können", sagt rückblickend der Professor für Kultur und Gesellschaft des Islam in Geschichte und Gegenwart.
Die Erwartungen sind laut Agai neben dem universitären Alltagsgeschäft, dass die Wissenschaftler Antworten auf Kernfragen der islamischen Theologie bieten, am öffentlichen Diskurs über Islam teilnehmen und die Verortung der muslimischen Zivilgesellschaft in diesem Land fördern.
Inzwischen ist Agai Direktor der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft und Chef von 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Auch wenn die Datenbank mit Experten noch nicht online ist, können sich Medienschaffende und Organisatoren von Podiumsgesprächen sowie andere Veranstalter schon jetzt an die AIWG wenden.
Canan Topçu
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