Ist der Sufismus in Gefahr?
Im 10. Jahrhundert stieß ein persischer Sufi-Meister namens Abul Hasan Fuschandschi eine Klage aus. "Heute ist der Sufismus ein Name ohne eine Realität”, lamentierte er. “Doch früher war er einmal eine Realität ohne Namen.“ Rund dreihundert Jahre später warnte Rumi in seinem großen Lehrwerk, dem Masnawi, seine Schüler vor Scharlatanen und unreifen sheikhs. Der Eindruck, der Sufismus sei nicht mehr das, was er einmal war, herrschte also bereits zu einer Epoche, die gemeinhin als goldenes Zeitalter der muslimischen Spiritualität und Gelehrsamkeit angesehen wird.
Tatsächlich ist die Gefahr von Verwässerung des Sufismus und von falschen Meistern eines der am häufigsten wiederkehrenden Themen in Rumis Buch, das als einer der größten Klassiker der spirituellen Weltliteratur gilt. Das Risiko von Missbrauch ist der Sufi-Tradition wie allen spirituellen Wegen eingegeben: Schließlich hat sich ein ernsthafter Schüler der Führung seines sheikh vollkommen hinzugeben, ohne dessen Anweisungen zu hinterfragen.
Der Meister wiederum setzt maßgeschneiderte Impulse für das Wachstum des Schülers, die aus einem tiefen Verständnis von dessen seelischer Verfassung kommen sollten. Die Autorität des Sufi-Lehrers rührt daher, dass dieser aus eigener Erfahrung die Fallstricke des spirituellen Weges genau kennt; jene Machenschaften des Egos, das den Schüler immer wieder von seinem Pfad abbringen will.
Besitzt der Lehrer jedoch selbst noch blinde Flecken, ist seine Persönlichkeit nicht ausreichend gereift, kann dies für den Schüler zerstörerische Folgen haben. Zu leicht sei es, warnt der persische Nationaldichter Hafis immer wieder in seiner beißenden Kritik der frommen Heuchelei, sich in die Gewänder der Sufis zu kleiden und sich deren Duktus anzueignen, um Suchende in die Irre zu leiten.
Entfremdung von der spirituell-intellektuellen Kultur der Vorfahren
Politische Verfolgung durch Fundamentalisten und Modernisten hat in vielen muslimischen Ländern dazu geführt, dass die Initiationsketten der Sufi-Meister unterbrochen wurden. Vielerorts kam es dabei zur Verfälschung der Lehre oder einem Verlust an spiritueller Authentizität. Neben menschlichen Schwächen und Fallstricken sehen sich Sufis und ihre sheikhs heute einer Reihe weiterer Herausforderungen gegenüber.
Der globale Kapitalismus mit seinem Heilsversprechen von Glück und Zufriedenheit hat die sogenannte islamische Welt fast vollständig überschwemmt. Die Entfremdung ganzer Generationen von der spirituell-intellektuellen Kultur ihrer Vorfahren ist eine schleichende Tragödie für die Gesellschaften zwischen Westafrika und Ostasien. Schließlich waren die mystischen Bewegungen zwischen Marokko und Indonesien seit jeher auch eine Wiege der Wissenschaft und der schönen Künste — heute stößt man vielerorts nur noch auf spärliche Überbleibsel vergangener Zeiten.
Die größtenteils aus dem Westen importierte Spaßkultur der Ablenkung und Zerstreuung hat bei den Menschen zu einem Mangel an Willen geführt, sich der Disziplin einer sufischen Charakterschule hinzugeben. Auf der anderen Seite fühlen sich viele von einem in Dogmen erstarrten Islam entfremdet. Denn statt einem feinsinnigen, differenzierten und nach innen gerichteten Verständnis von Religion werden in unserer Zeit schnelle Gewissheiten gesucht (im Westen findet diese Tendenz ihr Spiegelbild in der unhinterfragten Nachfolge einer mit einem Absolutsheitsanspruch versehenen Wissenschaft, die zur Religion erhoben wurde).
Die Sehnsucht nach einfacher Orientierung in einer ungleichen und unsicheren Welt leistet ultraorthodoxen Auslegungen des Islam wie dem Wahabbismus und Salafismus in vielen muslimischen Ländern Vorschub. Der Anthropologe und Sufi-Forscher Jürgen Wasim Frembgen hat den Zusammenhang zwischen Ungerechtigkeit und Extremismus vor dem Hintergrund der pakistanischen Kultur in seinem Buch Sufi Hotel beschrieben:
“Von ihrem Glauben wissen diese völlig selbstgewissen Wahhabiten und Salafisten mit ihrem Anspruch auf absolute Wahrheit, ihren fiebrigen Wahnideen und strikten Moralvorschriften erstaunlich wenig. Schon gar nicht die Anhänger des IS, die sich vielfach im Internet radikalisieren. Doch den Nährboden ihrer verqueren Erlösungsphantasien mit ihrer Strenge und Prüderie bilden die massive Ungerechtigkeit und Chancenlosigkeit auf ein menschenwürdiges Leben, die zwischen Nordafrika und Südasien seit Jahrzehnten mit Händen zu greifen sind."
Und weiter: "Die Hauptschuld an der ungleichen ökonomischen Entwicklung trägt die neoliberale Ideologie des reichen Westens mit ihrer Selbstgefälligkeit, bedenkenlosen Ausbeutung von Ressourcen und Unterstützung repressiver Regime. Heute plündert sie durch ihre individualisierte Konsumreligion genauso wie früher im Zeitalter des Kolonialismus und Sklavenhandels, ruiniert die Lebensgrundlagen der Menschen und fördert so die Radikalisierung.”
Radikale Religiöse — seien es die Taliban, salafistische Bewegungen oder die Terroristen des IS — greifen den Sufismus an. Den Nährboden dafür hat ein fundamentalistischer Diskurs geschaffen, der den Traum einer Wiederherstellung des angeblich “wahren Islam” hegt.
Im Zuge dieser Entwicklung haben sich auch manche Sufi-Orden radikalisiert: In Pakistan politisierten sich in den letzten Jahrzehnten Sufi-Bewegungen, deren Anhänger sich regelmäßig mit Blasphemie-Anschuldigungen hervortun und auch nicht vor Gewalt zurückschrecken. Diese hochpolitisierten Verleumdungen führen in Pakistan immer wieder zu gewaltsamen Konflikten, zu Morden oder menschenrechtswidrigen Gerichtsverfahren.
Universeller Sufismus
Eine parallele Entwicklung im letzten Jahrhundert war der Export von Sufi-Lehren aus verschiedenen Ländern der islamischen Welt in den Westen. Der Mystiker und Musikologe Inayat Khan, der durch vier Sufi-Orden in Indien eingewiesen wurde, zog 1914 von Nordindien nach London und gründete dort den Internationalen Sufi-Orden. Die “Inayyatiyah” praktiziert eine Form des universalen Sufismus und vereint in ihren Lehren Elemente der mystischen Traditionen verschiedener Religionen.
Von türkischen Derwisch-Orden ging ebenfalls eine Bewegung gen Westen aus — der seit dem 18. Jahrhundert im Istanbuler Stadtteil Fatih beheimatete Jerrahi-Orden besitzt heute einen Zweig in den Vereinigten Staaten mit Ordenszentren in New York, Kalifornien und Chicago. Die Mevlevi-Lehre, die sich auf Rumi beruft, wird heute durch die Arbeit von Kabir Helminski weitergetragen, der die Lehre des Heiligen aus dem 13. Jahrhundert in den USA mit originalgetreuen Gedicht-Übersetzungen weitergegeben hat.
Die Adaptierung von Sufi-Tradition an die westliche Mentalität hat der islamischen Mystik in Europa und Nordamerika eine neue Färbung gegeben. Robert Frager etwa — ein amerikanischer Therapeut und Vertreter des Jerrahi-Orden — hat in seiner Arbeit die Sufi-Lehre von der Transformation der Seele mit westlicher Psychologie verschmolzen.
Während konservative Sufis kritisieren, dass viele Orden im Westen von ihren Anhängern keine Konversion zum Islam verlangen, so scheint heute die Weiterentwicklung des Sufitums vor allem im Westen voranzuschreiten. Der Spagat zwischen Bewahrung von Tradition und Öffnung für neue Impulse wird die Entwicklung der islamischen Mystik weiterhin definieren.
Letztlich scheint die Bewertung der Zukunft des Sufismus von unserer Perspektive abzuhängen: Betrachten wir die islamischen Mystiker vorwiegend in ihrer äußeren Identität als verletzliche gesellschaftliche Gruppe innerhalb der muslimischen Welt, deren Form von Religionsausübung immer wieder angegriffen wird, so sollten wir zurecht besorgt sein.
Verstehen wir den Sufismus essentiell als Weg jener Wahrheitssuche, die dem Menschen in seinem tiefsten Inneren eingegeben ist, so hat dieser Jahrhunderte politischer Umwälzungen überlebt und findet — allen Widrigkeiten zum Trotz — immer wieder neue Wege des Ausdrucks. Dass sich in einer zunehmend von inneren und äußeren Konflikten geprägten Welt immer mehr Menschen nach Sinn und spiritueller Erfüllung sehnen, liegt auf der Hand. Der Sufismus mit seiner differenzierten Sicht auf die menschliche Persönlichkeitsentwicklung kann hier Antworten auf die zeitlosen existenziellen Fragen des Menschen geben.
Auf die Frage nach dem Schicksal der türkischen Sufi-Orden seit deren offizieller Schließung durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1925 antwortete Hayat Nur Artıran, Sufi-Lehrerin aus der Mevelevi-Tradition und Präsidentin der Şefik Can International Mevlana Education and Culture Foundation in Istanbul: "Der Sufismus ist ein Wissen, das zu Selbsterkenntnis führt. Er ist ein Weg, um Gott nah zu sein. Diese Tür lässt sich von der Regierung weder öffnen noch schließen. Niemand kann dieser Suche Grenzen setzen.“
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