Der kranke Mann am Mittelmeer
Algerien ist eigentlich ein komplexes Land. Dennoch gibt es drei Schlüsselfaktoren für das Verständnis des gegenwärtigen politischen Niedergangs: die Cliquenwirtschaft, die Öleinnahmen und das Erbe des Bürgerkriegs.
Ein Rückblick: In den 1980er Jahren und mit Wahl Chadli Bendjedids zum Präsidenten Algeriens war der Prozess der wirtschaftlichen Liberalisierung geprägt durch den Rückzug des Staates, durch mehr Raum für freie Initiativen und durch die Verwendung der Öleinnahmen zur Belebung der Leichtindustrie sowie zum Aufbau einer Infrastruktur.
Der plötzliche und schmerzhafte Verfall der Ölpreise auf dem Weltmarkt im Jahr 1986, der mit einer wachsenden sozialen Schieflage einherging, erklärt in gewissem Maße die Unruhen vom November 1988, in die das Militär dann blutig eingriff.
Der darauf folgende Prozess, der von einer Demokratisierung des Landes flankiert war, resultierte schließlich im Sieg der Islamisten bei den Regionalwahlen von 1990 sowie im ersten Durchgang zu den Parlamentswahlen von 1991. Zur Vermeidung einer parlamentarischen Mehrheit der Islamisten annullierte das Militär das Wahlverfahren und führte einen Staatsstreich durch, der die Initialzündung zu einem langen Bürgerkrieg mit rund 200.000 Toten wurde.
Das heutige Algerien ist tief von dieser Erfahrung geprägt. Es leidet unter inneren Spannungen und ist überaus abhängig von Öleinnahmen, die eine Vetternwirtschaft derjenigen mit den richtigen Beziehungen zur Staatsmacht begünstigen. Diese Beziehungen zur Staatsmacht werden von den verschiedenen Cliquen in steter Rivalität gepflegt und machen das ressourcenreiche Land zum Gefangenen starker sozialer Verwerfungen.
Allmächtiger "Gott Algeriens"
Anfang September letzten Jahres entließ Präsident Bouteflika überraschend den mächtigen Chef der algerischen Geheimdienste, Mohamed Mediène, genannt Toufik. Der in den 1960er Jahren vom KGB ausgebildete "Gott Algeriens" – wie er sich gerne nennen ließ – wuchs im Schatten von General Mohamed Betchine auf, dem Leiter des Nachrichtendienstes in den 1980er Jahren, bevor er selbst mehr als 25 Jahre einem der mächtigsten und einflussreichsten Geheimdienste der Welt vorstand.
Dies war eine außergewöhnlich lange Amtszeit. Darauf verweist auch der Wissenschaftler Jeremy Keenan von der School of Oriental Studies der Universität London und nennt zum Vergleich die Amtszeiten anderer berühmt-berüchtigter Geheimdienstler: Die Gewaltherrschaft von Lawrenti Beria als Chef der sowjetischen Geheimdienste dauerte 15 Jahre, die von Heinrich Himmler, u. a. Chef des Inlandsgeheimdienstes und Organisator des Naziterrors, endete nach elf Jahren mit seinem Suizid bei Kriegsende.
In dem Vierteljahrhundert seiner Amtszeit war Mediène eine der schillerndsten Gestalten Algeriens und gleichzeitig ein in der Öffentlichkeit wenig bekanntes Gesicht: Eine einzige verblichene Fotografie zeigt General Toufik mutmaßlich gegen Ende der 1990er Jahre.
Seine Absetzung ist jedoch nicht – wie viele vorschnell behaupten – ein Versuch der amtierenden zivilen Kräfte, das Militär besser und wirksamer zu kontrollieren. Vielmehr ist dies als konzertierter und erfolgreicher Angriff des militärischen Befehlshabers Ahmed Gaïd Salah und jetzigen Chefs des Militärgeheimdienstes Athmane Tartag zu sehen.
Salah war Mediènes erbitterter Feind seit 2004, als sein Vorgänger Mohamed Lamari nach einer Absprache zwischen Toufik und Bouteflika entfernt wurde. Athmane Tartag, bekannt als Bachir, und ehemalige Nummer zwei des algerischen Geheimdienstes, war mit Mediène nach dem katastrophalen Management der sogenannten In-Amenás-Krise im Januar 2013 aneinander geraten, als eine Milizengruppe mit Kontakten zu Al-Qaida mehr als 800 Arbeiter auf einem Erdgasfeld in Tigantourine als Geisel nahm.
Bei einem überstürzt und planlos durchgeführten Angriff einer algerischen Spezialeinheit starben mindestens 67 Menschen, darunter 37 Ausländer. Die Krise hatte internationale Folgen und führte u. a. zur Einbestellung des algerischen Botschafters durch die japanische Regierung, da bei dem Angriff zehn japanische Arbeiter getötet wurden.
Abrechnung mit General Toufik
Anders als man annehmen könnte, war die Ablösung Mediènes keine reine Überraschung, sondern das Ergebnis der erfolgreichen Schwächung des einst mächtigsten Mannes Algeriens. Das monatelang geplante Vorhaben durchlief drei Phasen: Zunächst wurden verschiedene, bislang vom algerischen Geheimdienst kontrollierte Behörden unter das direkte Mandat der Armee gestellt, also unter den Befehl von Ahmed Gaïd Salah.
Später wurden mehrere Gefolgsleute Mediènes – vom Leiter der Gegenspionage Abdelhamid "Ali" Bendaoud bis zum Befehlshaber der Präsidentschaftsgarde Djamel Kehal Medjdoub – entmachtet oder entlassen. Ende August wurde schließlich General Hassan festgenommen.
Damit waren alle Vorbereitungen für den entscheidenden Schlag gegen den "Gott Algeriens" getroffen – ein Schlag, der schon bald ausgeführt werden sollte. Nach offiziellen Angaben fiel die Entscheidung darüber bereits Anfang September. Nach seiner sensationellen Entmachtung zog sich General Toufik in ein lang anhaltendes, aber viel diskutiertes Schweigen zurück. Dies brach er erst kürzlich mit einem offenen Brief an eine algerische Tageszeitung nach der Verurteilung seines engen Verbündeten General Hassan zu fünf Jahren Haft.
Derzeit ist kaum zu sagen, in welche Richtung und zu wessen Gunsten sich dieser Konflikt entwickeln wird. Allerdings dürfte klar sein, dass die zivilen Kräfte in keinem Fall daraus nennenswert gestärkt hervorgehen werden. Der Grund dafür ist einfach: Die Präsidentschaft, die bislang einzige nennenswerte Opposition gegen die massive Dominanz des Militärs, war noch nie so schwach und kraftlos wie heute.
Als Abdelaziz Bouteflika, Außenminister von 1963 bis 1978, seinerzeit vom Militär gebeten wurde, für das Amt des "ausgewählten" Präsidenten bei den nicht sonderlich freien Wahlen von 1999 zu kandidieren, war Algerien ein von sieben langen Bürgerkriegsjahren zermürbtes und international völlig isoliertes Land.
Als für den neuen Präsidenten günstige Umstände erwiesen sich dessen persönliche Verbindungen, der steigende Ölpreis auf den Weltmärkten und der Paradigmenwechsel nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center. So konnte Bouteflika seine Macht schnell festigen.
Nach einer Verfassungsänderung zur Aufhebung der Amtszeitbegrenzung des Präsidenten wurde Bouteflika 2009 zum dritten Mal in Folge wiedergewählt. Die dritte Amtszeit ist jedoch von Beginn an durch eine abrupte Abkühlung eines Paktes gekennzeichnet, der Algerien in den letzten Jahren dominierte: der Pakt zwischen Bouteflika und Mediène.
Die Gründe dafür bleiben vage. Viele Kommentatoren mutmaßen jedoch, dass Toufik die wachsende Macht des Präsidenten fürchtete und sich der von Bouteflika vorbereiteten dynastischen Thronfolge entgegenstellte. Diese fand ihren Ausdruck in dem stets wachsenden Einfluss seines jüngeren Bruders Saïd, den Mediène für rundum inkompetent hielt.
Der Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem Geheimdienstchef scheint zugunsten des Letzteren ausgegangen zu sein. Nicht nur Bouteflikas Bewegungsspielraum war 2009 mithilfe der Justiz eingeengt worden. Er musste nach einer endlosen Reihe von Skandalen viele seiner engsten Vertrauten entlassen, u. a. seinen Freund, Energieminister Chakib Khelil.
Und auch die prekäre Gesundheit von Bouteflika spielte Mediène in die Hände. Nach einem schweren Schlaganfall musste sich der Präsident im Frühjahr 2013 fast drei Monate in Frankreich behandeln lassen, bevor er – in einem Rollstuhl – nach Algier zurückkehren konnte.
Bouteflika – der Mann, der die Wahlen für sich laufen ließ
Trotzdem und nach endlosen Kontroversen mit der Opposition gelang es Bouteflika, sich im April 2014 für eine vierte Amtszeit wiederwählen zu lassen. Diese Wahl bleibt in Erinnerung als eine, die von einem Mann gewonnen wurde, "der nicht laufen kann, der die Wahlen aber für sich laufen ließ."
In einem Land, das seit jeher von der sogenannten "Macht" regiert wird – einer gesichtslosen Clique aus Generälen, Geheimdienstlern und staatlichen Wirtschaftsbossen – erzeugt die Erkrankung des Präsidenten immer neue Gerüchte über dessen Amtsfähigkeit und wirft die Frage auf, wer in Algerien tatsächlich die Strippen zieht.
Der 1. November 2015 markiert einen wichtigen Wendepunkt, als 19 algerische Politiker ihre ernsthaften Zweifel an der Amtsfähigkeit von Präsident Abdelaziz Bouteflika schriftlich publik machten. Diese Initiative ist sicherlich kein Novum für das nordafrikanische Land. Ein Blick auf die Liste der 19 Autoren, die sich nach Wegfall von drei Abtrünnigen auf 16 verkleinerte, evoziert allerdings weitere Fragen.
Abgesehen von der Trotzkistin Louisa Hanoune, ihres Zeichens Generalsekretärin der Arbeiterpartei, stehen die übrigen 18 Unterzeichner, die um ein Treffen mit Bouteflika ersuchten, dem Präsidenten sehr nahe bzw. sind Mitglieder des innersten Unterstützerkreises. Hier kommen erhebliche Zweifel auf: Warum sollte man öffentlich um etwas ersuchen, was man bereits weiß oder was einem dank persönlicher Kontakte problemlos bekannt sein könnte?
Die gesamte Ereigniskette veranlasst viele dazu, diese Geste als Ablenkungsmanöver zugunsten des Präsidenten zu sehen. Ein Manöver, das Bouteflika in einer heiklen Lage, in der das Säbelrasseln ein bislang nicht gekanntes Ausmaß erreicht hat, durch direkte Einbeziehung des Landes stützen soll.
Reminiszenzen an Tunesiens kranken Präsidenten Bourguiba
Die gegenwärtige Lage in Algerien erinnert viele Beobachter an die Ereignisse 1987 in Tunesien, als der kranke Präsident Habib Bourguiba in einem "medizinischen Staatsstreich" seines Amtes enthoben wurde. Diese berühmt gewordene Formulierung geht auf Zine El-Abidine Ben Ali zurück, den damaligen Innenminister und maßgeblichen Anstifter zu einem Plan, der ihn selbst ins höchste Staatsamt hieven sollte, das er bis zu den Unruhen bekleidete, die später als "Arabischer Frühling" in die Geschichte eingingen und unter deren Einwirkung er das Land im Januar 2011 in großer Eile verließ.
Der erbitterte Machtkampf an der Spitze trifft Algerien in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage mit wachsender sozialer Ungleichheit und der Verarmung der schwächeren Bevölkerungsschichten. Die Wirtschaft des Landes ist im weltweiten Vergleich weiterhin nur sehr schwach diversifiziert. Mehr als 97 Prozent der Exporte entfallen auf Erdöl und Erdgas.
Eine Fertigungsindustrie ist praktisch nicht mehr existent, nachdem die Industrialisierungsbemühungen aus den 1970er Jahren zum Stillstand kamen. In einem solchen Umfeld bringen die anhaltend niedrigen Preise für "das schwarze Gold" die algerische Regierung in ernsthafte Schwierigkeiten. Diese nimmt zwar erhebliche Haushaltsdefizite in Kauf, ist aber trotzdem gezwungen, die Ausgaben zurückzufahren und die Subventionen sogar für Grundbedürfnisse der Bürger drastisch zu kürzen.
Der sehr bescheidenen politischen Legitimität des Regimes und der wachsenden Unruhe in verschiedenen Bevölkerungsgruppen steht der zunehmend massive Gebrauch von Repressalien zur Vermeidung sozialer Aufstände entgegen, die man in der Vergangenheit noch mit den hohen Erträgen aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft eindämmen konnte.
Begrenzte Spielräume für Oppositionelle
Die Einengung der Bewegungsspielräume der Opposition betrifft auch die Arbeit zahlreicher unabhängiger Journalisten und sozialer Initiativen. Das Schicksal von Hassan Bouras ist hier sicherlich exemplarisch zu sehen. Anfang November 2015 wurde Hassan Bouras ohne Anklage inhaftiert. Er ist Mitglied der "Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte" (LADDH) und ein Aktivist gegen den Einsatz von Fracking zur Ausbeutung von Öl- und Gasschieferfeldern im Süden des Landes. An der anderen Front animieren die gewaltsamen Proteste die Reaktionen derjenigen, die im aktuellen politischen System nicht vertreten sind.
Am 2. Dezember 2015 löste der Versuch, ein zur Zeit des Bürgerkriegs illegal errichtetes Gebäude zu sprengen, ungewöhnlich gewaltsame Reaktionen junger Menschen in Dergana aus, einem östlichen Vorort von Algier. Der Zusammenstoß zwischen Polizeikräften und Demonstranten hinterließ zahlreiche Verwundete und führte zu Dutzenden von Festnahmen.
Unberechenbare soziale Unruhen gehören in jüngster Zeit zum politischen Alltag Algeriens. Doch die Unfähigkeit, breiter angelegte politische Forderungen zu formulieren sowie die Unmöglichkeit, sich mit einer zahlenmäßig kleinen und nicht sehr kampfbereiten Arbeiterbewegung zu verbinden, sind maßgebliche Faktoren dafür, warum eine echte soziale Opposition nicht auf die Beine kommt.
Beide Probleme scheinen weiter aktuell zu sein, obwohl die jüngste Mobilisierung von Arbeitern des Nutzfahrzeugherstellers SNVI in Rouïba, dem pulsierenden Herz der von einstigen Staatschef Boumedienne geförderten Schwerindustrie, ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Zukunft Algeriens mehr verspricht als wechselnde Machtkämpfe im militärischen Apparat.
Gianni Del Panta
© ResetDoc 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers