Der tiefe Staat
Wieder tritt Abdelaziz Bouteflika bei den algerischen Präsidentschaftswahlen an. Sie sind für den 17. April 2014 geplant. Und wenn nichts Entscheidendes dazwischen kommt, dürfte er es nach Einschätzung von Beobachtern aller Voraussicht nach schaffen: Der 1998 ins Amt gewählte Präsident würde zum vierten Mal an der Spitze des algerischen Staates stehen.
Doch gegen eine neuerliche Wahl Bouteflikas zum Staatschef regt sich Widerstand: In Algier demonstriert die Gruppe "Barakat!" gegen die erneute Kandidatur des Präsidenten. Rund um die Universität verteilen Anhänger der Gruppe Handzettel. "Ich habe Sie niemals darum gebeten, dass Sie sich um ein viertes Mandat bewerben", steht darauf. "Darum fordere ich Sie auf, sich von dieser politischen Maskerade zurückzuziehen."
Eine politische Maskerade: Dieser Vorwurf ist nicht nur im Vorfeld der Wahlen wiederholt zu hören. Warum tritt der inzwischen 77 Jahre alte Bouteflika, der das Land seit 1998 regiert, noch ein weiteres Mal an? Wer hat ihn aufgestellt - und mit welchem Ziel? Fragen, auf die es in Algerien keine eindeutigen Antworten, sondern nur Vermutungen gibt.
Undurchsichtigkeit als Prinzip
Die fehlende Transparenz hat System, schreibt der Algerien-Experte José Garçon in einer Analyse für die Zeitung L'Observateur du Maroc. "Undurchsichtigkeit und Manipulationen erklären, warum es so schwierig ist, ins Innere des algerischen Machtzentrums einzudringen. Zugleich stellen sie die Straflosigkeit eines Regimes sicher, das sich dazu entschlossen hat, anonym zu bleiben, um auf diese Weise nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können." Außerdem vermeide es so, der nach Vergeltung trachtenden Bevölkerung das Antlitz eines Tyrannen zu präsentieren, wie es in den Nachbarländern der Fall gewesen sei.
Allerdings zeigt sich gerade an den Aktionen von "Barakat!", dass die Regierung eine entschlossene Opposition auf breiter Front nicht fürchten muss. Denn die Gruppe dringt mit ihren Aktionen kaum über die Hauptstadt hinaus. Allenfalls findet sie einige Gleichgesinnte in den anderen Universitätsstädten des Landes. Doch sobald man sich in der Provinz umhört, ist von der Bewegung nicht mehr viel zu merken.
Immerhin beweise das Bündnis eine dem politischen Kampf entspringende "moralische Kraft" , erklärt der Soziologe Nasser Djabi vom Forschungszentrum für angewandte Ökonomie und Entwicklung (CREAD) in Algier gegenüber der Zeitschrift Jeune Afrique. "Das ist eine Seltenheit in Algerien, wo wir daran gewöhnt sind, für bessere Lebensbedingungen auf die Straße zu gehen." Notwendig wäre es darum, so Djabi weiter, "dass die Bewegung nicht auf die Mittelklasse beschränkt bleibt, sondern auch auf die unteren Klassen übergreift."
Genau das ist aber nicht der Fall. Die algerische Bevölkerung bleibt ruhig - so wie sie sich auch schon während der Aufstände in der arabischen Welt weitgehend zurückgehalten hat. Nach ein paar Demonstrationen in der Hauptstadt verebbte der Protest wieder.
Der erkaufte soziale Friede
In seinem kürzlich erschienenen Buch "Histoire secrète de l'Algérie indépendante" führt der Journalist Mohamed Sifaoui mehrere Gründe für diese Zurückhaltung an. Erstens wollten die Algerier nach der traumatischen Erfahrung des von 1992 bis 2002 tobenden Bürgerkriegs nichts riskieren, was die Stabilität im Lande ein weiteres Mal gefährden könne. Zweitens verfüge die Regierung durch die Öleinnahmen über erheblichen Reichtum. Sobald sie es für nötig halte, setze sie diesen auch ein, um dem aufkeimenden Protest durch finanzielle Zuwendungen den Schwung zu nehmen. "Ohne jeglichen ökonomischen Plan verteilt das Regime Geld, zu dem einzigen Zweck, den sozialen Frieden zu erkaufen."
Drittens gebe es in Algerien keine nennenswerte Opposition. "Das Regime hat um sich herum ein Vakuum geschaffen, indem es die einen kauft und die anderen abstößt." Die Opposition laufe regelmäßig ins Leere. Alle anderen Kräfte seien durch Günstlingswirtschaft gefügig gemacht worden.
Die Staatsspitze sei darum kaum mehr auf Gewalt angewiesen, erklärt der an der Universität Marburg lehrende Politologe Rachid Ouaissa. "Die massiven Menschenrechtsverletzungen, wie sie in den 1970er Jahren üblich waren, gibt es nicht mehr." Eigentlich wäre das Land bereit, politische Prinzipien wie den demokratischen Wechsel und die Legitimität von Herrschaftsstrukturen zu diskutieren. "Doch da passiert nichts. Die großen Parteien sind zerstört worden. Die politische Szene ist banalisiert", so Ouaissa.
Furcht vor der jüngeren Generation
Dem Regime, schreibt Sifaoui, gehe es nur noch darum, die politische und wirtschaftliche Macht nicht aus den Händen zu geben. Diese Logik habe die algerische Politik während der Herrschaftszeit Bouteflikas geprägt. Was damit gemeint ist, zeigte sich während des Besuchs von US-Außenminister John Kerry am 4. April 2014 - gut zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen.
Das hatte Politiker aufgebracht, die ebenfalls für das höchste Amt im Staat kandidieren. Sie fühlten sich durch Kerrys Besuch benachteiligt. Sie monierten, Kerrys Besuch habe nur dem Präsidenten, nicht aber ihnen geholfen. Damit, so kommentierte die Zeitung Quotidien d'Oran, machten sie sich genau jenes Verhalten zu eigen, dass sie Bouteflika vorwerfen: "So steht es um die Politik in einem Land, dessen Akteure nicht die Eigenständigkeit ihres Landes verteidigen, sondern die des Clans oder der Interessengruppe, der sie angehören."
Das Regime, schreibt Sifaoui, müsste nur Eines fürchten: einen Aufruhr durch die jungen Algerier. Allerdings spricht derzeit wenig dafür, dass es dazu kommt. Weite Teile des Mittelstandes profitierten von den Zuwendungen des Regimes, sagt Rachid Ouaissa. Darum unterstützten sie es. Die Ärmeren hingegen würden das Regime hinnehmen. Bekämen die Jüngeren aber etwas Geld in die Hände, so Ouaissa, dann wüssten sie angesichts der überschaubaren Wassermassen des Mittelmeers, die zwischen ihnen und dem ersehnten Leben in Europa liegen, ganz genau, wie sie das Geld investieren würden: "Sie kaufen ein Schlauchboot."
Kersten Knipp
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de