Migranten fordern starken Staat
"Ich mache mir große Sorgen", sagt Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. "Ich erkenne mit Befremdung, wie Islamophobie geschürt wird, und zwar in einem Ausmaß, wie man es sich vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können."
Der SPD-Politiker Saleh bekennt sich als Muslim zu seinem Glauben. Und er gilt als Vorbild für den religiösen Dialog. Gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Berlin will er an der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln die Synagoge wieder aufbauen lassen, die Nazis in der Pogromnacht vor 80 Jahren zerstörten.
Die jüngsten Anschläge auf Moscheen und die islamkritischen Äußerungen von Innenminister Horst Seehofer zeigen, wie mühsam dieser Dialog ist. "Die Anschläge auf Moscheen sind nicht hinnehmbar, egal, von welcher Seite sie kommen. Ein Anschlag auf eine Moschee, ein Synagoge oder eine Kirche ist immer auch ein Angriff auf die gesamte Gesellschaft", stellt Saleh klar.
Hasskriminalität nimmt zu
Die Statistik belegt den Trend der religiösen und politischen Radikalisierung in Deutschland. Während die allgemeine Kriminalität zurückgeht und die Zahl der Straftaten im vergangenen Jahr in vielen Bundesländern auf einen erfreulichen historischen Tiefstand gesunken ist, nehmen politisch motivierte Straftaten zu.
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums stiegen die unter dem Begriff "Hasskriminalität" erfassten Straftaten zwischen 2010 und 2016 von 3.770 auf 10.751 Fälle an. Besonders stark ist die Zunahme bei Straftaten, bei denen politische Konflikte aus dem Ausland, zum Beispiel der Kurdenkonflikt in der Türkei, oder religiöse Motive eine Rolle spielen. Dies zeigt sich bei Bedrohungen von Islamisten gegenüber liberalen Muslimen.
Besonders jüdische und muslimische Gemeinden sind durch die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung gefährdet. Zwischen 2010 und 2016 nahm die Anzahl der Straftaten, die auf aus dem Ausland importierten Konflikten beruht, von 120 auf 404 Fälle zu. Bei religiös motiviert Straftaten schoss die Zahl im selben Zeitraum von 248 auf 1.516 Fälle empor. Im vergangenen Jahr setzte sich der negative Trend fort.
Polizeischutz für Gotteshäuser
Muss also der Rechtsstaat die Religionsfreiheit stärker schützen? Die Antwortet lautet "jein". "Man kann nicht vor jede Moschee oder jeden türkischen Kulturverein einen Polizisten stellen", sagt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. Bei rund 2.200 Moscheen in Deutschland sei dies eher schwierig.
Die meisten jüdischen Einrichtungen - Synagogen, Schulen, Kindergärten - hierzulande stehen bereits unter Polizeischutz. So existenziell wichtig dieser staatliche Schutz auch ist - er löst nicht das grundsätzliche Sicherheitsproblem, das sich aus Antisemitismus und Isamfeindlichkeit nährt, so die Erfahrung der Betroffenen.
"Die Islamverbände haben sehr deutlich formuliert, dass sie sich wünschen würden, mehr gehört zu werden, gerade angesichts dieser Brandanschläge", sagt Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung. Kaum einer habe sich an sie gewendet und gefragt, ob sie sich noch sicher fühlten.
Mangelnde Empathie
Auch Yunus Ulusoy bekommt immer wieder Klagen zu hören, dass sich viele Migranten von den Sicherheitsbehörden nicht ernst genommen fühlen. "Was die Community stört, ist die Teilnahmslosigkeit der Öffentlichkeit", sagt er. "Wenn solche Anschläge auf Moscheen bei anderen Gruppen passieren würden, hätte man in Deutschland eine ganz andere Diskussion. Das ist der Vorwurf, den ich aus der türkischen Community höre."
Memet Kilic, Vorstandsmitglied im Bundesintegrationsrat, hat genau diese Erfahrung gemacht. Vor einigen Jahren erhielten der Grünen-Politiker aus Heidelberg und sein Sohn Todesdrohungen, und zwar von einem ehemaligen Mitglied des Bundesintegrationsrates.
Kilic erinnert sich: "Die Sicherheitsbehörden stuften die Drohungen als verbandsinterne Auseinandersetzung ein. Mir wurde geraten, eine private Klage wegen Beleidigung einzureichen, obwohl ich mit dem Tod bedroht wurde. In diesem Moment fühlt man sich vom Rechtsstaat verlassen."
Mehr Richter und Polizisten
Angesichts der Anschläge auf Moscheen warnt Kilic davor, die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der türkischen Community oder anderer aus dem Ausland importierter Konflikte zu unterschätzen.
"Justiz und Sicherheitsbehörden dürfen diese Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen und als ausländische Angelegenheiten abtun", sagt er. "Ansonsten werden wir von solchen Entwicklungen überrascht und kriegen sie irgendwann nicht mehr unter Kontrolle."
Bei der Politik scheint die Warnung angekommen. Laut Koalitionsvertrag der neuen Regierung sollen bei den Gerichten der Länder und des Bundes 2.000 neue Richterstellen geschaffen werden. Außerdem sollen die Sicherheitsbehörden technisch und finanziell besser ausgestattet sowie die Zahl der Polizeibeamten um 15.000 erhöht werden.
Migranten und ihre Communities geben sich damit nicht zufrieden. Sie wollen beim Thema innere Sicherheit künftig stärken mitreden und fordern einen starken Staat. "Der Rechtsstaat muss ein Exempel statuieren und hart gegen Gesetzesuntreue vorgehen", fordert Grünen-Politiker Memet Kilic. "Die liberalen Vereinigungen müssen auch mal belohnt werden."
Astrid Prange
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