Auf dem Weg zur dritten Intifada?
Kontrovers war schon der Bau der Jerusalemer Straßenbahn. Sie führt mehrere Kilometer mitten durch das arabische Viertel Shuafat, also durch besetztes Gebiet, um die Siedlung Pisgat Zeev mit dem Zentrum zu verbinden. Aber als der ultramoderne, klimatisierte "Light Train" im Sommer 2011 endlich über die Schienen rollte und in der Eingewöhnungsphase Passagiere umsonst mitnahm, gefiel das auch vielen Palästinensern. "Wie in Paris" habe er sich in dem Zug gefühlt, begeisterte sich damals ein älterer Mann im Gemüseladen von Schuafat. Die anderen Kunden freuten sich mit.
Drei Jahre ging die Sache gut. In Jerusalems einziger Straßenbahn, die zu einem Gutteil entlang der alten Teilungslinie von 1967 verläuft, saßen sie einträchtig beieinander – ultraorthodoxe Juden mit ihrem Gebetsbuch, israelische Siedler und palästinensische Männer auf dem Weg zur Arbeit und viele arabische Frauen, die zum Shopping auf die Jaffa-Straße wollten.
Bis zum 2. Juli, als der 16-jährige Mohammed Abu Khdeir direkt neben seinem Elternhaus, unweit der Haltestelle Shuafat, von rechtsradikalen Israelis in deren Auto gezerrt, entführt und auf brutale Weise ermordet wurde – aus Rache für den Mord an drei zuvor gekidnappten jüdischen Religionsschülern in der Westbank. Bei den palästinensischen Unruhen, die darauf im Ostteil Jerusalems entbrannten und seitdem immer wieder aufflammen, gingen nicht nur Ticketautomaten zu Bruch. Die Tat setzte eine Eskalationskette in Gang, die das Gesicht der Stadt verändert hat.
Jerusalem ist wieder Frontstadt
An der Bahnstrecke geht inzwischen die Angst vor Amokfahrern um, nachdem bereits zweimal Palästinenser mit ihren Autos gezielt in die Wartemenge an Haltestellen rasten. Vier Menschen, ein Baby darunter, kamen ums Leben. Wer kann, meidet die Tram, die in den Abendstunden nur noch unter polizeilichem Begleitschutz die arabischen Viertel passiert. 40 Prozent der Waggons haben bereits Steinwürfe abgekommen. Fast überall im Ostteil der Stadt patrouillieren schwer bewaffnete Grenzpatrouillen. Jerusalem ist wieder Frontstadt.
Was nach Intifada aussieht, ist auch eine Intifada, behaupten manche israelische Kommentatoren. Und viele Palästinenser empfinden nicht nur klammheimliche Freude über die wachsende Verunsicherung unter den Israelis. Die zweite, bewaffnete Intifada, als allein in einem Monat, im März 2002, mehr als 120 Israelis von Selbstmordattentätern in den Tod gerissen wurden, besaß zwar eine ganz andere Dimension des Schreckens. Aber die unkoordinierten Anschläge der jüngsten Gewaltwelle, zu denen auch Messerattacken in Tel Aviv und der Westbank-Siedlung Gusch Etzion gehören, lassen sich schwerlich verhindern. Mehr als lose Verbindungen zu den Islamisten, ob Hamas oder Dschihad, hatten die Attentäter nicht. Sie agierten als "Einzelterroristen". Gerade das macht sie so unberechenbar.
"Jemand steht morgens auf und entscheidet sich, ein paar Israelis zu töten", sagt Jacov Amidror, ehemals Sicherheitsberater der Regierung Netanjahu. In solchen Fällen habe man kaum eine Chance, die Gefahr rechtzeitig zu erkennen und abzuwehren. Abgesehen von Betonbarrieren an Haltestellen zu errichten, könne die Polizei wenig tun, um individuelle Attentäter zu stoppen.
"Widersetzt Euch, auch mit Eurem Wagen!"
Die wiederum sind in palästinensischen Augen die neuen Helden, die die Israelis das Fürchten lehren. Auf Facebook-Seiten kursieren Cartoons von Autos, die wie gefährliche Raubtiere Menschen anspringen, und Slogans wie: "Revoltiert und widersetzt Euch, auch mit Eurem Wagen!"
Die aufgeladene Stimmung speist sich vor allem aus den Spannungen am Tempelberg in Jerusalem, im Islam als Haram al-Scharif (erhabenes Heiligtum) verehrt. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versichert zwar unermüdlich, den Status Quo nicht antasten zu wollen, der den Muslimen das religiöse Vorrecht auf dem Al-Aksa-Plateau einräumt. König Abdullah von Jordanien, dem obersten Hüter dieser Stätte, soll er das sogar persönlich versprochen haben. Doch Amman scheint nicht überzeugt und rief aus Protest gegen die zeitweilige israelische Schließung der Al-Aksa-Zugänge seinen Botschafter aus Tel Aviv zu Konsultationen zurück.
Netanjahus rechtsnationale Parteifreunde, voran die Likud-Abgeordnete Zipi Hotovely, hält auch das nicht von provokativen Auftritten ab – erst recht nicht nach dem Mordversuch an Jehuda Glick. Der passionierte Vorreiter für "jüdische Freiheit auf dem Tempelberg" war Ende Oktober von einem Palästinenser angeschossen und schwer verletzt worden.
Jedenfalls initiierte US-Außenminister John Kerry bei seiner Nahost-Reise auf die Schnelle eine Krisenrunde in Jordanien mit König Abdullah und dem aus Israel überraschend eingeflogenen Netanjahu. Beide - genauso wie Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, den Kerry zuvor in Amman getroffen hatte, rang er das Versprechen ab, sich um Deeskalation der explosiven Lage zu bemühen. Als Zeichen des guten Willens hob Israel die Altersbegrenzung beim Freitagsgebet auf, weswegen in den vergangenen Wochen Muslime unter 50 oder 35 Jahren nicht zur Al-Aksa-Moschee durften. Das nimmt Druck raus. Die Protestgebete auf dem Straßenpflaster niederkniender Palästinenser fachten die Empörung im arabischen Stadtteilen ohnehin nur an.
Auch betont Israels Chefrabbiner Yitzhak Yosef, aus religiöser Sicht seien Besuche für strengfromme Juden auf dem Tempelberg geradezu eine Todsünde. "Wir müssen das stoppen. Nur dann wird das Blut Israels nicht weiter vergossen." Nach ultraorthodoxer Lehre meiden fromme Juden das Areal schon deshalb, um nicht versehentlich allerheiligsten Boden zu entweihen. Nur, nationalreligiöse Rabbiner behaupten längst das Gegenteil: es sei geradezu heilige Pflicht dort zu beten. Und für die palästinensischen Fraktionen, ob Fatah, Hamas oder Dschihad, bieten kämpferische Aufrufe, Al-Aksa zu verteidigen, Gelegenheit, sich selbst zu profilieren.
Wut auf alle
Dabei zeichnet sich "die Jerusalemer Intifada" dadurch aus, dass sie keine politische Führung besitzt und ihre Aktivisten auf eigene Faust agieren. Die meist jugendlichen Steinewerfer haben Wut auf alle: Auf die israelische Regierung, die jüdische Siedlungen im Osten Jerusalems ausbaut, aber die arabischen Viertel verkommen lässt. Und auf die palästinensische Führung in Ramallah, die viel verspricht, wenig tut und in dem Israel 1980 annektierten Ostteil der Stadt auch nichts zu sagen hat.
Das soziale Gefälle zwischen jüdischen und arabischen Stadtteilen ist jedenfalls groß. Die Palästinenser machen etwa 37 Prozent der über 800.000 Einwohner Jerusalems aus und müssen Steuern zahlen wie alle anderen. Auf sieentfallen aber nur 12 Prozent des Budgets, was sich bei ihnen in miserablen Schulgebäuden, löchrigen Straßen und überquellenden Müllcontainern bemerkbar macht.
Seit dem Bau der Mauer, die Ost-Jerusalem von der Westbank trennt, gleichen manche Randbezirke mehr und mehr Slums. Unter Bürgermeister Nir Barkat, selbst ein Nationalreligiöser, wurde im Sommer zwar ein Fünf-Jahres-Programm für Ost-Jerusalem mit einem Etat von jährlich zwölf Millionen Euro aufgelegt. Aber das Geld komme nicht den Bürgern zugute, sondern werde vor allem für Maßnahmen wie die Bekämpfung von Kriminalität verwendet, heißt es in einem gemeinsamen Bericht israelischer und palästinensischer NGOs.
Das nach israelischem Gesetz "auf ewig vereinte Jerusalem" hatte mit der Realität schon immer wenig zu tun. Die "Jerusalemer Intifada" hat die unsichtbare Teilungslinie wieder bewusster gemacht. Auf Dauer werden die Verhältnisse, so wie sie sind, auch mit noch so viel Polizeigewalt, auf die Netanjahu setzt, nicht aufrecht zu erhalten sein.
Was im Kosmos dieser "heiligen Stadt" passiert, ist eine Warnung an alle, die glauben, ohne politische Lösung auskommen zu können. Gilly Harpaz, Sprecher der Genfer Friedensinitiative, drückt es so aus: "Das bi-nationale Jerusalem führt vor, wie das Leben in Israel wäre, wenn es ein bi-nationaler Staat würde."
Inge Günther
© Qantara.de 2014