Imame gegen geschlechterselektive Abtreibung

In Aserbaidschan werden weibliche Föten oft gezielt abgetrieben. Die Regierung versucht, die damit verbundene Geringschätzung weiblicher Nachkommen in den Familienverbänden zu ändern. Und einige Imame sind zu unverzichtbaren Fürsprechern zur Beendigung dieser Praxis geworden. Aus Baku berichtet Ayşe Karabat.

Von Ayşe Karabat

Aserbaidschan liegt bei der Zahl der geschlechterselektiven Schwangerschaftsabbrüche nach China an zweiter Stelle weltweit. Ein Gespräch zwischen Qantara.de und den Bewohnern eines Frauenhauses in Baku, der Hauptstadt des Landes, lieferte jüngst die traurige Bestätigung.

"Ich hatte bereits zwei Töchter. Mein Mann drohte mir, mich zu verlassen, falls das dritte Kind ein Mädchen werden sollte. Als klar war, dass es ein Mädchen werden würde, versuchte ich zunächst, eine Fehlgeburt herbeizuführen, um keinen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen zu müssen. Ich wurde daraufhin ins Krankenhaus eingeliefert", berichtete eine Frau im Versammlungsraum des dreistöckigen Frauenhauses, in dem 30 Frauen Zuflucht gefunden haben.

Fast alle Frauen dort erzählen ähnliche Geschichten. Mindestens einmal wurden sie gezwungen oder fühlten sich dazu verpflichtet, eine Abtreibung vorzunehmen, weil sie mit Mädchen schwanger waren.

Bei einer Frau verhielt es sich etwas anders. "Ich hatte drei Mädchen und einen Jungen. Als ich daraufhin wieder ein Mädchen gebar, zwang mich mein Mann, meine Tochter zur Adoption freizugeben. Mir blieb keine andere Wahl. Mein nächstes Kind war dann ein Junge. Wir behielten ihn."

Mehriban Zeynalova, Vorsitzende der NGO "Clean World Aid to Women Social Union" und Leiterin des Frauenhauses, erklärte gegenüber Qantara.de, geschlechterselektive Abtreibungen seien ein großes Problem im Land. "Doch den Frauen hier ist gar nicht bewusst, dass sie eigentlich Opfer dieses Problems sind. Sie wenden sich wegen der erzwungenen geschlechterselektiven Abtreibungen nicht an die zuständigen amtlichen Stellen", so Zeynalova.

Düstere Aussichten

Nach demographischen und medizinischen Erhebungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) in Aserbaidschan wird etwa jede zweite Schwangerschaft im Land durch Abtreibung beendet. Die aserbaidschanischen Gesetze erlauben den Abbruch bis zur zwölften Schwangerschaftswoche. Unter bestimmten finanziellen oder sozialen Bedingungen können Frauen den Abbruch auch noch bis zur 22. Woche beantragen.

Der Soziologe Javid Shahmaliyev steht während des muslimischen Gebets in einer lokalen Moschee neben dem Imam; Quelle: privat
Über die besondere Bedeutung von Mädchen in einer patriarchalischen Gesellschaft sprechen: Der Soziologe Javid Shahmaliyev beteiligt sich seit 2010 an Projekten, die sich mit diesem Thema befassen. "Wir reden mit ihnen in den Teehäusern und in den Moscheen. Und wir schärfen das Bewusstsein unter den religiösen Führern. Obwohl Aserbaidschan ein muslimisches Land ist, sind islamische Ideale nicht jedem bekannt. Also haben wir den Menschen erklärt, was der Islam über den Wert von Mädchen sagt. Die Zusammenarbeit mit den religiösen Führern und Imamen brachte enorm positive Ergebnisse."

Die Berichte des UNFPA belegen, dass in Aserbaidschan Anfang der 2010er Jahre das Verhältnis von Jungen zu Mädchen 116 zu 110 betrug, obwohl das Geschlechterverhältnis bei der Geburt weltweit bei 105 Jungen zu 100 Mädchen liegt. Im Jahr 2016 sank diese Zahl auf 114 Jungen, was jedoch immer noch recht hoch ist.

"Wenn sich das Geschlechterverhältnis weiter zuungunsten der Frauen verschiebt, wird das Land bald unter den negativen Auswirkungen leiden: ein größeres geschlechtsspezifisches Gefälle in der Bildung, eine Verringerung des Frauenanteils auf dem Arbeitsmarkt und eine Maskulinisierung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Eine solche Maskulinisierung wird die Entwicklungschancen von Frauen verschlechtern und die Kriminalität ansteigen lassen, einschließlich des Menschenhandels", warnte der Bericht des UNFPA.

Aus demselben Bericht geht auch hervor, dass in Aserbaidschan die Bevorzugung männlicher Nachkommen deutlich ausgeprägt ist. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen aus verschiedenen Generationen, sozioökonomischen Hintergründen und Regionen des Landes. Söhne gelten als "Aktivposten", die wirtschaftlich zur Familie beitragen können, während Töchter als "Passivposten" betrachtet werden.

Der Soziologe Javid Shahmaliyev engagiert sich seit 2010 in Projekten, die sich mit diesem Problem und der Förderung der Wertschätzung von Mädchen befassen. Seit drei Jahren widmet er sich in diesem Rahmen einer besonders anspruchsvollen Aufgabe: Die männlichen Vertreter dieser patriarchalischen Kultur zum Umdenken zu bewegen.

Von Mann zu Mann

In ganz Aserbaidschan gibt es mehrere Sensibilisierungsprogramme – entweder in den sozialen Medien oder in Form von Veranstaltungen. Doch selbstverständlich gibt es auch Menschen, vor allem auf dem Land, die entweder nicht in sozialen Netzwerken unterwegs sind oder kaum an einschlägigen Veranstaltungen teilnehmen würden. Sie lassen sich nur im persönlichen Gespräch überzeugen. "Wir sind von einem Teehaus zum nächsten gegangen und haben mit ihnen von Mann zu Mann gesprochen", erklärte Shahmaliyev.

Anfangs sei es schwierig gewesen, ihr Gehör und ihren Respekt zu gewinnen. Aber mit der Zeit entwickelte man Wege, um ins Gespräch zu kommen.

Imam Oktay Quliyev; Foto: privat
Überwindung des anfänglichen Widerstands: Über den Propheten Mohammed zu sprechen, der keinen Sohn außer einer Tochter namens Fatima hatte, ist eine gute Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bemerkt Quliyev. "Wir sagen ihnen, dass es keinen Unterschied gibt zwischen der vorislamischen Tradition, Mädchen direkt nach der Geburt zu begraben, und der sexuell selektiven Abtreibung."

"Grundsätzlich würden sie vielleicht über Abtreibung sprechen wollen, aber weil das ein Tabuthema ist, haben wir stattdessen mit ihnen über den Wert von Mädchen gesprochen. Wir sprachen mit ihnen in den Teehäusern, wir sprachen mit ihnen in den Moscheen. Wir haben das Bewusstsein unter den religiösen Führern geschärft. Obwohl Aserbaidschan ein muslimisches Land ist, sind islamische Ideale nicht jedem bekannt. Also haben wir den Menschen erklärt, was der Islam über den Wert von Mädchen sagt. Die Zusammenarbeit mit den religiösen Führern und Imamen brachte enorm positive Ergebnisse."

Töchter als Segen

Ein solcher Imam, der sich mit geschlechterselektiven Abtreibungen beschäftigt, ist Oktay Quliyev. Er nimmt an Sensibilisierungsprojekten teil und nutzt seine wöchentliche Fernsehsendung auf einem überregionalen Sender dazu, die Menschen davon zu überzeugen, dass diese Praxis falsch ist. Zunächst sei er auf Widerstand der Gesellschaft gestoßen, aber indem er über den Propheten Mohammed sprach, der keinen Sohn hatte, sondern eine Tochter namens Fatima, konnte er die nötige Aufmerksamkeit gewinnen.

"Wir verweisen dabei auf Koranverse, die den vorislamischen Brauch untersagen, Mädchen direkt nach ihrer Geburt zu begraben. Wir erklären ihnen, dass es keinen Unterschied zwischen diesem verbotenen Brauch und der geschlechterspezifischen Abtreibung gibt. Und wir sagen ihnen auch, dass der Koran insbesondere Töchter als Verkünder guter Nachrichten erwähnt."

Quliyev regte an, die Abtreibung und die Geschlechtsbestimmung am Fötus während der Schwangerschaft zu verbieten, ähnlich wie man dies in Südkorea in den 1990er Jahren tat, als dort ebenfalls noch geschlechterselektive Abtreibungen vorgenommen wurden.

Aber die meisten der befragten Aserbaidschaner, darunter der Soziologe Shahmaliyev und die Aktivistin Zeynalova, waren der Meinung, dass solche Verbote das Problem nicht lösen würden, wie auch der UNFPA-Bericht belegte.

Laut dem Bericht herrschte unter Regierungsvertretern und anderen, die befragt wurden, breiter Konsens darüber, dass Verbote keine Lösung seien. Erstens seien Verbote sehr schwer durchsetzbar, da Ärzte einfach einen anderen Grund für die Abtreibung angeben können. Zweitens seien Frauen der Gefahr ausgesetzt, illegal und unter weniger sicheren Umständen abzutreiben. Der technische Fortschritt mache es zudem immer einfacher, das Geschlecht des Fötus frühzeitig in der Schwangerschaft zu bestimmen, heißt es in dem Bericht.

Statt Verbote zu erlassen, braucht die aserbaidschanische Gesellschaft einen umfassenden Aktionsplan. Tatsächlich wurden hierzu bereits Schritte vorbereitet, die noch auf die Zustimmung der Regierung warten.

Umsetzung des Aktionsplans

Elnur Suleymanov, Leiter einer Abteilung im aserbaidschanischen Ministerium für Arbeit und Soziales des Bevölkerungsministeriums, sagte, dass die Bemühungen von Imamen, Gruppen und Ministerien wichtig, aber nicht ausreichend seien, wenn es darum gehe, das Problem zu bewältigen.

"Wir haben gemeinsam mit dem UNFPA einen Aktionsplan erstellt. Wir ersuchen derzeit andere staatliche Institutionen um ihre Stellungnahme zu diesem Plan, der auf Sensibilisierung und Kampagnen zur Gleichstellung der Geschlechter beruht. Dieser Plan wird einen umfassenden Fahrplan für wirksame Interventionsstrategien zur Verringerung geschlechterspezifischer Abtreibungen vorlegen; er wird über einen eigenen Etat, einen eigenen Ausschuss und geeignete Maßnahmen verfügen. Wir brauchen ihn zur Sicherung der Zukunft unserer Gesellschaft."

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers