Ein gesellschaftliches Tabu
"Ich habe Medikamente gesnommen, um das Baby abzutreiben", erklärt Lina leise. Sie bereut ihre Entscheidung nicht, denn sie ist sich sicher, dass sie keine andere Wahl mehr hatte. "Mein Mann, dem man eine Beteiligung an einem Anschlag vorgeworfen hatte, kam ins Gefängnis. Ich war jedoch bereits davor schon schwanger", erzählt die Anfang 20-Jährige. "Meine Familie hat sich sehr geschämt."
Lina, die eigentlich anders heißt, lebt in einem kleinen Ort im Osten Afghanistans. Hier, in der erzkonservativen Gesellschaft, gelten strenge Regeln. Eine Unehrenhaftigkeit - selbst wenn sie, wie in Linas Fall, nur auf einem Gerücht basiert - gilt als Gesichtsverlust und ist damit ein Todesstoß für die ganze Familie. Die Leidtragenden sind meistens Frauen. Nicht wenige lösen den Konflikt durch Abtreibung: "Ich habe viele Bekannte, die das auch so praktizieren", sagt Lina. "Man geht einfach zum Arzt und holt sich danach die erforderlichen Tabletten aus der Apotheke. Nach einer Weile ist das Kind tot."
Gesetzliches Verbot von Abtreibungen
Dabei ist ein "induzierter Schwangerschaftsabbruch" in der Islamischen Republik Afghanistan offiziell verboten. Es gibt nur dann eine Ausnahme, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder das Kind eine starke Behinderung aufweist. In jedem anderen Fall ist Abtreibung illegal und wird mit Freiheitsstrafe oder einer hohen Geldstrafe geahndet. Auch Vergewaltigung oder gar Inzest werden nicht als triftige Gründe angesehen, sagt Malika Paygham, Ärztin in einem Krankenhaus in der westafghanischen Stadt Herat. "Haben Mutter oder Kind gesundheitliche Probleme, führen drei Ärzte der Inneren Medizin und ein Gynäkologe nach vorheriger Beratung die Abtreibung durch." Außerdem muss eine Bescheinigung eines Arztes für Innere Medizin sowie die Erlaubnis der "Shura Ulama", des Religionsrates, vorliegen.
Auch Linas Abtreibung ist illegal. "Ich weiß, dass es Mord ist, ein Kind abzutreiben. Aber mein Gedanke war: Entweder bringe ich mich um oder das Kind." Lina hat noch drei weitere Kinder. Die strengen Traditionen in der afghanischen Gesellschaft haben ihr das Gefühl gegeben, keine andere Wahl zu haben. Ein uneheliches Kind gilt als undenkbar. Es wird von Frauen erwartet, viele Kinder zu bekommen, weil dies in der traditionellen Vorstellung das Überleben der Familie sichert - vor allem Jungen sind erwünscht.
Fehlende Aufklärung
Afghanistan hat die höchste Geburtenrate in Asien. Durchschnittlich bringen Frauen sechs Kinder zur Welt. Viele Frauen wollen zwar keinen oder weniger Nachwuchs, ihnen fehlt aber die nötige Bildung, um sich über Verhütungsmethoden zu informieren. Nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF verwenden 79 Prozent der Frauen in Afghanistan keine Verhütungsmittel. Abtreibung ist die einzige Form von Verhütung, die sie kennen", sagt Adela Mubasher von der Weltgesundheitsorganisation WHO in Afghanistan. "Weil das illegal ist, wenden sie sich vor allem an traditionelle Hebammen, womit sie ein großes Risiko eingehen. Die Hebammen sind oft nicht ausgebildet und können Blutungen und Komplikationen nicht behandeln", so Mubasher.
Viele Frauen wenden sich auch an private Krankenhäuser. Es sei allgemein bekannt, dass manche dieser Kliniken gegen hohe Geldsummen Abtreibungen durchführen, auch ohne Erlaubnis, sagen einige Frauen, die ihren Namen nicht nennen wollen, und auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. "Es kommt relativ oft vor, dass junge Frauen vor der Ehe ungewünscht schwanger werden und eine Abtreibung wollen", räumt Mohammad Hashem Wahaj ein. Er ist Arzt im Privathospital Wahaj in Kabul. Doch er fügt hinzu: "Wir haben unsere Lizenz vom Gesundheitsministerium und halten uns an die Regeln." Das Gesundheitsministerium bestätigte offiziell, dass es die Kliniken über die Gesetzeslage aufkläre.
Schlechte Gesundheitsversorgung
Trotz großer Bemühungen weist das afghanische Gesundheitssystem für Frauen immer noch zahlreiche Mängel auf. Zwar hat sich die Müttersterblichkeit am Hindukusch in den letzten zehn Jahren verbessert, trotzdem ist die Rate immer noch eine der höchsten der Welt. UNICEF zufolge stirbt alle zwei Stunden eine afghanische Frau an den Folgen ihrer Schwangerschaft.
"Es gibt nicht viel qualifiziertes, medizinisches Fachpersonal", kritisiert Severine Caluwaerts, eine Gynäkologin die mit der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" lange Zeit in Afghanistan zusammengearbeitet hat. "Ein männlicher Frauenarzt wird nicht akzeptiert, weibliche Ärzte gibt es kaum."
Caluwaerts und ihre Kollegen setzten deshalb auf Aufklärung: "Wir bieten den Frauen Beratung zu Gesundheitsfragen und Familienplanung an, weil wir wissen, dass ihnen und ihren Kindern damit das Leben gerettet werden kann." Auch Lina weiß es heute besser: sie fordert mehr Bewusstsein für dieses gesellschaftliche Problem und wünscht sich, "dass die Medien und die islamischen Autoritäten im Land verstärkt über Familienplanung sprechen". Gesellschaftliche Tabus sollten nicht der Grund dafür sein, dass so viele Abtreibungen in Afghanistan stattfinden, sagt sie.
Waslat Hasrat-Nazimi
© Deutsche Welle 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de & Ana Lehmann/Deutsche Welle