Die zwei Gesichter des Terrors in Syrien
Ist es eine schlaue Geste oder ein schlechter Witz? Baschar al-Assad erklärt sich bereit, gemeinsam mit dem Westen den Terrorismus zu bekämpfen, allerdings nur wenn die internationale Gemeinschaft "Syriens Führung und Unabhängigkeit" akzeptiert. Die Botschaft ist klar: "Wenn Obama Stellungen des Islamischen Staates (IS) bombardieren will, sagen wir ihm gerne, wohin seine Drohnen fliegen müssen, dann können wir uns wieder ganz dem syrischen Widerstand widmen und Fassbomben abwerfen wo es uns passt."
Werden Amerikaner und Europäer so töricht sein und auf diese Propaganda hereinfallen? Mancher Kenner der Region rät tatsächlich, das syrische Regime als „kleineres Übel“ zu akzeptieren und mit ihm zusammen den Islamischen Staat zu bekämpfen. Eine fatale Fehleinschätzung, denn Assad und IS brauchen sich gegenseitig, um zu existieren. Sie sind die zwei Gesichter des Terrors in Syrien.
Natürlich wirken das pseudo-säkulare syrische Regime und die religiösen Fanatiker von IS auf den ersten Blick wie Feinde. Bei genauerer Betrachtung folgen jedoch beide der gleichen totalitären Ideologie. "Entweder du bist für uns oder wir vernichten dich" – nach dieser Maxime handelt sowohl Assad als auch IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi. Der eine lässt widerspenstige Zivilisten zu Tode foltern, erschießen, bombardieren, vergasen oder aushungern, der andere lässt sie möglichst öffentlichkeitswirksam hinrichten.
Die Allianz Assad und IS
Aber Moral beiseite. Wer kann sich angesichts von wahnwitzigen Dschihadisten, die sich jederzeit bereitwillig in die Luft sprengen oder jemanden vor laufender Kamera enthaupten, noch Moral leisten? Denken wir also pragmatisch und seien wir ehrlich. IS ist für den Westen die größere Bedrohung, schließlich tötet das Assad-Regime "nur" Syrer, während IS-Anhänger schon bald die erste große Bombe in Europa zünden könnten. Sollten wir also doch an Assads Tür klopfen? Ein paar Infos über die Stellungen der Terroristen im Osten einholen und vorm Untergang Aleppos im Nordwesten Syriens die Augen verschließen? Nein. Denn Assad hat weder den Willen, die Dschihadisten zu besiegen, noch ist er dazu in der Lage.
Drei Jahre lang hat das syrische Regime alles dafür getan, radikale Islamisten zu seinem mächtigsten Feind zu machen. Wir erinnern uns – anfangs sahen Assads "Terroristen" noch recht harmlos aus: aufmüpfige Schulkinder, Plakate malende Aktivisten, friedliche Demonstranten, Medikamente schmuggelnde Frauen, Ärzte und Sanitäter, Deserteure und national gesinnte Kämpfer.
Diese gemäßigten Kräfte hat Assad mit größtmöglicher Brutalität und unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden Massenvernichtungswaffen bekämpft, während er die ab Anfang 2013 ins Land strömenden Dschihadisten geduldet, geschont und sogar gefördert hat. Gleichzeitig hat das Regime religiösen Hass gesät und Al-Qaida-Mitglieder aus dem Gefängnis Seidnaya bei Damaskus entlassen, von denen sich nach Recherchen des Wall Street Journal mindestens vier dem Islamischen Staat angeschlossen haben.
IS wiederum, damals noch ISIS, hat zunächst nicht gegen das Regime in Damaskus gekämpft, sondern seinen Vormarsch auf die "befreiten" Gebiete konzentriert. Dort hat IS die Rebellen der Freien Syrischen Armee, die Kämpfer der Islamischen Front und kurdische PYD-Einheiten angegriffen und vertrieben, ganz im Sinne Assads.
Da das syrische Regime in diesen Regionen gezielt jeden Versuch des zivilen Neuanfangs zerbombte, hatten die Dschihadisten leichtes Spiel, zunächst als soziale Wohltäter und dann als selbsternannte Emire aufzutreten, Kleidervorschriften zu erlassen, Musik und Zigaretten zu verbieten.
Diese unsägliche Allianz zwischen Assad und IS hat weite Teile des Nordens und Ostens, ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, zum Kalifat gemacht. Aber vielleicht wird Assad der IS-Terror im eigenen Land nun doch unheimlich? Schließlich hat er gerade seinen letzten Militärflughafen in der Provinz Raqqa an die Dschihadisten verloren und die Videos von Massenerschießungen syrischer Soldaten sorgen für Unmut und Kritik in den eigenen Reihen.
Propaganda zum eigenen Machterhalt
Will Assad die Geister, die er rief, wieder loswerden? Nein, er will sie schwächen und kontrollieren, aber nicht besiegen. Assad braucht den Islamischen Staat als Schreckgespenst, um die Syrer und die Welt in Angst zu versetzen und weiterhin den "Retter vor dem Terror und Schutzpatron der Minderheiten" spielen zu können. Sein plumpes "Entweder wir oder die Terroristen"-Argument ist nichts anderes als Propaganda zum eigenen Machterhalt.
Assad ist folglich die Ursache des Problems, er kann nicht Teil der Lösung sein. Im Gegenteil. Solange er an der Macht ist, wird Syrien keinen Frieden finden. Angesichts von 200.000 Toten und zehn Millionen Vertriebenen werden die Menschen nicht ruhen bis das Regime in Damaskus weg ist – zu hoch ist der Preis, den sie bereits bezahlt haben. Assad kann das Land nicht stabilisieren, denn seine schiere Präsenz ist die Motivation aller bewaffneten Gruppen, weiterzukämpfen.
Hinzu kommt: Ohne Hilfe von außen, aus dem Iran und Russland, wäre Assad längst am Ende. Eine nationale "syrische Armee" gibt es nicht mehr, Assad stützt sich auf einzelne Eliteeinheiten, auf iranisch befehligte Verbände, Hisbollah-Kämpfer und schiitische Milizionäre aus dem Irak. Er ist folglich zu schwach und zu abhängig von anderen, um ein zuverlässiger Partner des Westens zu werden.
Nein, wir stehen in Syrien nicht vor der Wahl zwischen Assad und dem Islamischen Staat. 18 Millionen Syrer wollen weder das eine noch das andere, und die Mehrheit der syrischen Rebellen kämpft sowohl gegen Assad als auch gegen die IS-Fanatiker. Wer behauptet, der gemäßigte Widerstand sei aufgerieben, die Freie Syrische Armee zerfallen und alle übrigen Brigaden genauso radikal-islamisch wie IS, kennt die vielschichtige Realität nicht.
Eine gemeinsame Front gegen IS
In Syriens Nordwesten rückt die "Syrische Revolutionäre Front" auf die Provinzhauptstadt Idlib vor. Der Militärrat von Aleppo hat sich mit den Volksverteidigungseinheiten der kurdischen PYD, der PKK-Schwester in Syrien, zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen IS vorzugehen.
Die "Armee des Islam", ein Mitglied der "Islamischen Front", zu der Syriens lokale Islamistenverbände gehören, hat IS aus der Umgebung von Damaskus vertrieben. Und nachdem die moderaten Islamisten des syrischen Widerstandes Mitte Mai erklärten, einen Rechtsstaat anzustreben, sich nicht an Assad-Unterstützern rächen zu wollen und Minderheitenrechte zu respektieren, hat sich die Nusra-Front, der offizielle Al-Qaida-Vertreter in Syrien, von Syriens Rebellen distanziert.
Worauf warten wir noch? Wenn Assads Gegner versuchen, sich über ethnische und religiöse Grenzen hinweg zu einer Front gegen IS zusammenfinden, dann ist das genau die Entwicklung, die wir uns wünschen, die Syrien braucht und die wir so schnell wie möglich unterstützen sollten – mit moderner Waffentechnik und womöglich einzelnen gezielten Luftangriffen.
Mögliche Partner kennen wir genau, denn der nationale Widerstand bekommt bereits Hilfe aus dem Westen – nur nicht genug. Alle syrischen Kämpfer, die allein die Diktatur in Damaskus stürzen wollen, aber keine internationale dschihadistische Agenda verfolgen, sind unsere Verbündeten im Kampf gegen den Terror: den staatlichen des Assad-Regimes und den nicht-staatlichen des IS.
Kristin Helberg
© Qantara.de 2014