Endlose Verfahren und geringe Anerkennungschancen
Bibigul lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder in Köln, der viertgrößten Stadt Deutschlands. "Ich habe schon immer mit meiner Familie zusammengelebt, so auch jetzt", erzählt die 24-jährige Afghanin, die eigentlich anders heißt. Sie versucht nicht daran zu denken, dass sich ihre Situation bald ändern könnte. Ihr Asylantrag wurde vor Kurzem abgelehnt, der Rest ihrer Familie jedoch darf bleiben.
Bibiguls Familie kam vor eineinhalb Jahren nach Deutschland. Zuerst waren sie von Afghanistan in den Iran geflüchtet. Bibigul hätte nie gedacht, dass sie ihr Weg nach Deutschland führen würde. "Ich wollte früher einmal Außenministerin werden, darauf habe ich im Studium hingearbeitet", erzählt sie. "Ich hatte so viele Pläne für mein Leben in Kabul. Ich vermisse es, auf meine Ziele hinzuarbeiten. Doch das ist jetzt vorbei, es hat sich alles verändert", sagt sie.
Im Iran wurde ihrer Familie kein Asyl gewährt. "Die iranische Polizei nahm Flüchtlinge aus Afghanistan fest. Wenn sie keine Papiere hatten, dann wurden sie zurückgeschickt", berichtet Bibigul. Aus Angst versteckte sich Bibiguls Familie und beschloss, weiter zu flüchten: erst in die Türkei, dann nach Deutschland.
Leben in Unsicherheit
In der Bundesrepublik beantragte die gesamte Familie Asyl. Alle bekamen einen positiven Bescheid, mit Ausnahme von Bibigul. Nach ihrer Anhörung teilte man ihr mit, dass ihre Begründung nicht überzeugend war. Bibigul hatte versucht zu erklären, dass sie nicht nach Afghanistan zurück könne, weil man sie dort verfolgen würde.
Bibigul möchte nicht darüber sprechen, warum ihre Familie geflohen ist oder was ihr genau bevorsteht, sollte sie zurückkehren. Weil sie Klage gegen ihren negativen Bescheid eingereicht hat, könne sie nicht über Details sprechen. Doch sie erzählt: "Wir können nicht mehr zurück, nach dem was uns in Kabul passiert ist." Und fügt hinzu: "Man würde mich dort umbringen."
Die Bundesregierung hält Rückführungen in bestimmte, als sicher geltende Regionen in Afghanistan für vertretbar, darunter Kabul. Das Gesetz besagt auch, dass Asyl nicht gewährt wird, wenn es alternative, für sicher befundene Orte im Herkunftsland gibt, in die man umsiedeln könnte. Seit 2015 ist die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus Afghanistan kontinuierlich gesunken. Während sie 2015 noch bei 77,6 Prozent lag, ist die Quote im Januar und Februar 2017 auf 47,9 Prozent gesunken.
Strategie der Abschreckung
"Als aktive und alleinstehende Frau nach Afghanistan zurückzukehren ist nicht möglich", sagt Bibigul. "Es ist kein europäisches Land, es ist nicht sicher", sagt sie. Als sie von ihrer Ablehnung erfuhr, suchte sie so schnell wie möglich einen Anwalt, um Berufung einzulegen.
Nach Ansicht von Bernd Mesovic, Leiter der Abteilung Rechtspolitik bei Pro Asyl, hat die Ablehnung von afghanischen Asylbewerbern System: "Diese Praxis soll Afghanen fernhalten, die darüber nachdenken, nach Deutschland oder Europa zu fliehen", sagt er. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) steht Afghanistan an zweiter Stelle der Herkunftsländer mit den meisten Asylanträgen im Januar und Februar diesen Jahres, an Platz eins steht Syrien.
Für Mesovic gibt es keine sogenannten sicheren Gegenden in Afghanistan. "Die Lage hat sich dort noch weiter verschärft und mehr und mehr Regionen und Provinzen sind davon betroffen. Das veranlasst noch mehr Afghanen zur Flucht."
Mangelnde Kenntnisse der Lage in Afghanistan
Das Asylverfahren dauert lange und kann sich über Monate, wenn nicht sogar Jahre hinziehen. Der entscheidende Moment jedoch ist die Anhörung, in der die Asylbewerber einzeln vor den Entscheidern des Bundesamtes ihre persönlichen Gründe darlegen müssen, warum sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren können. Für Bibigul war es ein undurchsichtiger Prozess, erzählt sie. Außerdem habe ihr Entscheider kaum Zeit für sie gehabt. "Mir wurde erklärt, dass ich nur mir ja oder nein antworten sollte, oder mich kurz zu fassen habe."
Die Art und Weise, wie das Gespräch geführt wurde, verwirrte die Afghanin. "Ich dachte, er kennt meine ganze Geschichte schon, weil er mich bat, kurze Antworten zu geben." Nach ihrem negativen Bescheid sprach sie auch mit anderen Asylbewerbern, die Ähnliches berichteten.
Enttäuscht war Bibigul auch von der Tatsache, dass die Beamten sich nicht mit der Situation in ihrem Land auskannten. "Sie wussten gar nichts über Afghanistan", erzählt sie. "Sie sollten sich besser informieren." Laut Darstellung des BAMF werden von den Entscheidern neben umfassenden Kenntnissen des Asyl- und Ausländerrechts auch ein "detailliertes Wissen über die politische Lage in den Herkunftsländern der Antragsstellenden" vorausgesetzt.
Bibiguls Interview dauerte eineinhalb Stunden. Sie hatte zuvor gehört, dass die Anhörung in ihrer Muttersprache geführt werden würde. Doch der Übersetzer, der ihr zugeteilt wurde, kam aus dem Iran und sprach kein Dari sondern Persisch, so dass es eine ganze Weile dauerte, bis eine Verständigung möglich wurde und sie auf die Fragen des Entscheiders eingehen konnte.
Anna Busl ist Rechtsanwältin für Ausländer- und Asylrecht in Bonn. Sie hat mit rund einhundert Personen zu tun, die Asyl in Deutschland beantragt haben. Ihrer Erfahrung nach ist Bibigul kein Einzelfall – tausende Afghanen würden derzeit Klage gegen das BAMF erheben und in Berufung gehen.
"Das Verwaltungsgericht in Köln hat inzwischen so viele Berufungsklagen von afghanischen Flüchtlingen vorliegen, dass sie nach eigenen Angaben Jahre brauchen werden, um diese zu bearbeiten. Es wird sehr lange dauern, bis man dort eine Anhörung bekommen wird", erklärt sie.
Busl hat die Protokolle vieler Anhörungen von Asylbewerbern gelesen. Es sind immer wieder die gleichen Probleme, die ihr auffallen. "Es scheint, als hätten die Entscheider, also diejenigen, die das Interview führen und auch über die Gewährung von Asyl entscheiden, keine ausreichenden Kenntnisse darüber, wie sie Interviews mit Flüchtlingen führen sollen und wie die Situation in Afghanistan ist."
Jahrelanger Bearbeitungsaufwand
Die Zahl der negativen Bescheide nimmt zu. Busl zufolge würden die Entscheidungen des Bundesamtes nicht mehr den Einzelfall in Betracht ziehen, sondern lediglich dieselben Begründungen auflisten. Auch deswegen glaubt Busl, dass die meisten der Berufungsklagen erfolgreich sein werden.
Das BAMF hat aktuell ca. 8.300 Mitarbeiter, 2.550 von ihnen arbeiten als Entscheider. In manchen Fällen werden die Entscheidungen nicht von den Beamten getroffen, die auch das Interview führen. Dann würde die Entscheidung von einem anderen Mitarbeiter in einem der vier Entscheidungszentren in Berlin, Bonn, Mannheim oder Nürnberg gefällt. Das bestätigt Kira Gehrmann, Pressesprecherin beim BAMF.
Julia Scheurer vom Flüchtlingsrat NRW e.V. sieht ebenfalls strukturelle Probleme bei den Interviews im Aslyverfahren. "Für uns ist es sehr wichtig, dass die Person, die den Fall entscheidet, den Bewerber auch wirklich kennen lernt, sich mit ihm auseinandersetzt und mit ihm interagiert. Und nicht nur ein Protokoll des geführten Interviews liest", sagt Scheurer.
"Genau das passiert aber jetzt gerade. Es gibt so viele Asylbewerber und Anhörungen, die durchgeführt werden müssen, dass das BAMF die Aufgaben verteilen muss", erklärt Julia Scheurer.
Derweil rät Anna Busl jenen, die noch auf eine Entscheidung warten, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben, um ihre Lage zu verbessern. Das gelte speziell für jene Geflüchteten, die Berufung eingelegt haben. "Der einzige Rat, den ich geben kann, ist dass sie versuchen sollten, im Leben weiter zu kommen - also Deutsch zu lernen, nach einer Arbeit oder Ausbildung zu suchen, und die Zeit zu nutzen. Sonst bleibt ihnen nur monatelanges Warten."
Zivilé Raskauskaite
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