Leuchtender Stern in Ankara
Große Überraschungen liefert die historische Forschung über die NS-Zeit kaum noch. Doch mit einer solchen wartet jetzt der deutsche Historiker Stefan Ihrig auf. Beim Studium längst veröffentlichter Quellen hat er eine in ihrem Ausmaß bislang völlig unterschätzte Faszination der deutschen Rechten durch die moderne Türkei Atatürks entdeckt, die vor allem für die Nationalsozialisten und ganz besonders für Hitler zum Vorbild und Impulsgeber wurde (Stefan Ihrig: Atatürk in Nazi Imagination. Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge und London 2014).
Atatürk war aus Sicht rechter Kreise für Deutschland damals Unerreichbares gelungen. Mit Waffengewalt hatte er es vermocht, den seinem Land 1920 von der Entente aufgezwungenen Vertrag von Sèvres, der neben der Auflösung des Osmanischen Reiches auch eine Aufteilung des türkischen Territoriums unter fremde Mächte vorsah, zu revidieren.
Der von ihm angeführte türkische Befreiungskrieg endete mit dem Friedensvertrag von Lausanne 1923, auf den die heutigen Grenzen der Türkei zurückgehen. In der deutschen Presse, besonders im rechten Spektrum, avancierte der türkische Fall schnell zum Thema Nummer eins der Außenpolitik. In hunderten von Artikeln zollte man Atatürk Bewunderung für seine Errungenschaften und die Art, wie er sein Volk einte und sich dem Diktat der westlichen Siegermächte, dem sich auch Deutschland zu unterwerfen hatte, erfolgreich widersetzte.
"Heldenhafte Türkei"
Der Slogan von der für die Deutschen notwendigen "türkischen Lehre" machte die Runde – bei den Nationalsozialisten in besonders militanter Form. Im "Völkischen Beobachter" wurden die "heldenhafte Türkei" und ihre "Vorkämpfer"-Rolle gepriesen: Man werde in Deutschland eines Tages nicht umhin kommen, die türkischen Methoden anzuwenden.
Stefan Ihrig vermutet hier Hitler als Autor, stellte doch das Blatt kurz nach der Veröffentlichung dieser Zeilen die Beschäftigung mit dem Thema vorübergehend ein, was mit dem Ende von Hitlers dortiger Autorentätigkeit zusammenfiel.
Doch für Hitler wie für die Nationalsozialisten wurde der "Vorkämpfer" Atatürk immer mehr zum prägenden Vorbild. So dominierte das Thema in den Monaten vor dem Hitlerputsch die Berichterstattung in "Heimatland", dem zweiten Münchner Sprachrohr ihrer Bewegung. Man zog Parallelen zwischen der Türkei und der deutschen Situation.
Vom bayerischen München aus sollte Deutschland "befreit" werden. Entsprechend wurde im Haupttitel der Zeitschrift am 27. Oktober 1923, knapp zwei Wochen vor dem Putsch, die Forderung erhoben: "Her die Angora-Regierung!" – ein direkter Bezug auf Ankara ("Angora"), die Ausgangsbasis Atatürks für seine nationale Revolution.
Hitlers großes Vorbild
Vor allem mit Türkei-Bezügen versuchte Hitler vor Gericht den Hochverrat-Vorwurf abzuwehren. Obgleich er sich nach den Jungtürken Enver Pascha und Atatürk erst an dritter Stelle auf Mussolini als Musterbeispiel für Patriotismus berief, habe man in der Forschung, so Ihrig, so gut wie nur den Italiener zur Kenntnis genommen.
Wenngleich der Hitlerputsch die "Ankara in München"-Option obsolet machte, behielt das Geschehen in der Türkei seinen prominenten Platz in den rechten Blättern der Weimarer Republik.
Hitler selbst wurde zwar, da Klagen drohten, bei öffentlichen Vergleichen mit Atatürk, die jetzt als Aufruf zur Rebellion ausgelegt werden konnten, vorsichtig. Ihrig findet aber selbst in hinsichtlich dieser Thematik eher kryptisch wirkenden Passagen in "Mein Kampf" deutliche Anspielungen auf Hitlers Verherrlichung von Atatürks Waffengang.
In einer Hitler-Rede von 1928 wie auch in seiner zurückgezogenen "Stellungnahme zu einem Ermittlungsverfahren wegen Hochverrats" aus dem Jahr 1929 wird erneut die Analogie zwischen den Nationalsozialisten und der Bewegung Mustafa Kemals gezogen.
Das (Neu)Türkische als Vorbild
Schon kurz nach der Machtergreifung wurde Hitler hier sehr deutlich. Im Gespräch mit der türkischen Zeitung "Milliyet", das die deutsche Presse groß wiedergab, bekundete er im Juli 1933 seine Bewunderung für Atatürk, der für ihn in seiner Münchner "Kampfzeit" ein "leuchtender Stern" gewesen sei.
Von da an wurde die Atatürk-Verherrlichung, die der Autor mit zahlreichen Beispielen aus dem NS-Staatszeremoniell und der gleichgeschalteten Publizistik belegt, zur staatlichen Doktrin und alles (Neu)Türkische zum Vorbild so erhoben, dass sogar manchem NS-Propagandisten dabei unwohl wurde.
Die "völkische Bereinigung" der Türkei, die angebliche Beseitigung der alten multiethnischen osmanischen Gesellschaft, habe, so der Historiker, die Nationalsozialisten besonders fasziniert.
Hitler habe die Armenier, deren tragisches Schicksal er kannte, noch mehr gehasst als die Juden. Parallelen seien hier mehr als offensichtlich. Ihnen widmet Ihrig, dessen Studie in der türkischen Presse hohe Wellen schlägt, sein nächstes Buch, das im Herbst erscheinen soll.
Joseph Croitoru
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