Assads Ende in Sicht

Syriens Schicksal entscheidet sich im Kampf, nicht am Verhandlungstisch. Mancherorts hat die Ära nach Assad schon begonnen. Für die Machtübernahme braucht die syrische Opposition Unterstützung aus dem Ausland.

Kommentar von Kristin Helberg

Nicht nur der Krieg in Syrien hat vergangene Woche eine entscheidende Wende genommen, nein, auch das Leben von Präsident Bashar Al Assad. Wähnte er sich vor zehn Tagen noch in Sicherheit – die Kämpfe im fernen Homs, er und seine Getreuen im sicheren Zentrum der Hauptstadt Damaskus – muss er nun um sein Leben fürchten. Der Anschlag auf den Krisenstab des Regimes, bei dem vier enge Vertraute Assads starben, hat die Führungsspitze ins Herz getroffen und nachhaltig erschüttert.

Assad muss sich nun entscheiden. Will er bis zum bitteren Ende kämpfen und das Schicksal Gaddafis riskieren? Oder wird der 46-jährige Vater von drei Kindern in letzter Minute das Flugzeug gen Russland oder Iran besteigen? Fest steht: Assads Abgang ist die einzige Chance auf ein schnelles Ende des Konflikts. Solange er zum Kampf entschlossen bleibt und diesen von einem sicheren Ort innerhalb des Landes führen kann, wird der Krieg zwischen Regime und Rebellen zunächst zäh und blutig weitergehen. Ortschaften und Stadtteile werden mal von staatlichen Truppen, mal von Oppositionskämpfern eingenommen und zurückerobert werden. Schwere Waffen stehen gegen Guerillataktik – und mittendrin leidet die Zivilbevölkerung.

Während bei der Opposition die Motivation steigt, sinkt sie auf Seiten des Regimes. Jeder, wenn auch nur vorübergehend, "befreite" Flecken macht die Kämpfer der Freien Syrischen Armee entschlossener und Assads Soldaten verzweifelter. Das Regime kann nicht überall die Kontrolle behalten. Um Damaskus und die Wirtschaftsmetropole Aleppo zu sichern, muss es Truppen anderswo abziehen – im Norden und Osten des Landes haben die Rebellen deshalb mitunter leichtes Spiel. Einen Tag nach dem Attentat kontrollierte die Opposition bereits einzelne Grenzübergänge zum Irak und zur Türkei.

Der Kampf wird entscheiden

Die Moral der Armee liegt am Boden. Hunderte Soldaten laufen über, ganze Einheiten spalten sich ab, hochrangige Militärs bringen sich und ihre Familien ins sichere Ausland. Das Militär zerbröckelt und mit ihm eine der wesentlichen Stützen des syrischen Machtapparates. Für Assad bedeutet das eine weitere Gefahr: ein Putsch der Armeeführung. Der Glaube an einen Sieg schwindet auch innerhalb des Regimes, mächtige Figuren könnten den Präsidenten deshalb fallenlassen und sich auf die andere Seite schlagen, um ihre eigene Zukunft zu sichern. Wem kann Assad noch vertrauen?

Ein Poster von Bashar al-Assad neben Mülltonnen in Aleppo; Foto: Reuters
Trotz einem harten Kern von Unterstützern steht der syrische Diktator nun vor der Entscheidung: Assad hat die Wahl, ob er das Ende Gaddafis teilen will oder sich und seine Familie nach Teheran oder Moskau rettet; Foto: Reuters

​​Doch noch steht Assad nicht alleine. Ein enger Kreis von überwiegend alawitischen Offizieren, Geheimdienstchefs und seine erweiterte Familie sind auf Gedeih und Verderb mit ihm verbunden. Sie haben ihr eigenes Schicksal an den Machterhalt des Regimes gekettet, indem sie die Verantwortung für die exzessive Gewalt der vergangenen Monate tragen. Dieser harte Kern kämpft um Leben oder Tod und ist deshalb zum Äußersten bereit.

Angesichts dieser Eskalation in Syrien wirken die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft naiv. Assads Leben ist in Gefahr und die Europäische Union will mit Sanktionen "den Druck erhöhen". Die Armee beschießt Wohngebiete von Hubschraubern aus, und die UN-Beobachter sollen weitere 30 Tage in ihren Hotels ausharren. Opposition und Regime sprechen von "Endkampf", und Politiker in aller Welt fordern einen Importstopp für Waffen und faseln von "geordneter Machtübergabe". So wünschenswert eine diplomatische Lösung ist – es wird sie nicht geben. Das Schicksal Syriens entscheidet sich nicht am Verhandlungstisch, sondern im Kampf. Das hat drei Gründe: Bashar Al Assad, die Opposition und die internationale Gemeinschaft.

UN-Beobachter: Blasse Statisten im Konflikt

Präsident Assad hat von Anfang an auf eine militärische Lösung gesetzt und seine Gegner bewusst in den bewaffneten Kampf getrieben. Monatelang waren gemäßigte Oppositionelle bereit, mit Regimevertretern über einen demokratischen Übergang zu verhandeln. Ihre einzige Bedingung war, dass die Gewalt gegenüber friedlichen Demonstranten aufhört. Doch Assad ließ weiter schießen. Seit 16 Monaten hat er die Gewalt gegen Zivilisten an keinem einzigen Tag eingestellt, um einer Verhandlungslösung eine Chance zu geben.

Die verschiedenen politischen Oppositionsgruppen (der Syrische Nationalrat in Istanbul, das Nationale Koordinierungskomitee für einen Demokratischen Wandel in Damaskus, der Kurdische Nationalrat und andere Fraktionen), sind sich in einem wichtigen Punkt einig: Ein demokratischer Neubeginn in Syrien kann nicht mit Assad erfolgen. Sie sind bereit zu verhandeln, aber nur über die Machtübergabe. Assad selbst sieht sich dagegen als Retter Syriens. Er wähnt die Mehrheit der Syrer hinter sich, muss sein Land vor Terroristen, Islamisten und ausländischen Verschwörern beschützen und darf sich deshalb nicht aus der Verantwortung stehlen. Seine eigene Entmachtung zu verhandeln kommt für ihn nicht in Frage. Es gibt folglich keinerlei inhaltliche Basis für Gespräche zwischen Regime und Opposition.

Die internationale Gemeinschaft sitzt derweil auf der Zuschauerbank. Die UNO ist in Sachen Syrien handlungsunfähig. Der Weltsicherheitsrat kann sich nicht einmal zur Androhung von Wirtschaftssanktionen durchringen, weil die Veto-Mächte Russland und China blockieren. Das bedeutet, es bleibt bei Appellen, die bisher am Regime in Damaskus abprallten und Assad nur mehr Zeit für seinen Krieg gegen die Aufständischen verschafften.

Ein Mitglied der UN-Beobachtermission in der Nähe von Damaskus; Foto: Reuters
Praktisch handlungsunfähig: Die UN ist in Syrien zur Rolle des Zuschauers verdammt. Die Blockaden im Sicherheitsrat verschaffen dem Regime nur immer wieder mehr Zeit für den Krieg gegen die Opposition; Foto: Reuters

​​Die UNO hat in Syrien längst jede Glaubwürdigkeit verloren. Seit drei Monaten fordert der Annan-Plan einen Waffenstillstand, und obwohl er die Unterstützung aller Beteiligten hat, ist seit drei Monaten nichts davon umgesetzt. Im Gegenteil, die Gewalt eskaliert mit mehr als 100 Toten pro Tag. Und die 300 unbewaffneten UN-Beobachter filmen vom Hotel aus die Rauchwolken über Homs und Damaskus oder eilen zum nächsten Massaker, um Blutspritzer und Granateinschläge zu dokumentieren.

Die Richtigen unterstützen

Die meisten Oppositionellen haben deshalb schon vor Monaten realisiert, dass das Assad-Regime nur mit Gewalt zu besiegen ist und dass sie diesen Kampf alleine ausfechten müssen. Daher die wachsende Zahl von "befreiten" Gebieten und Deserteuren, die zunehmende Militarisierung des Aufstandes und die immer besseren Waffen der Rebellen.

Offiziell zögert der Westen, die Opposition zu bewaffnen mit dem Argument, mehr Waffen brächten mehr Gewalt. Aber machen wir uns nichts vor. Waffen finden ihren Weg ohnehin ins Land. Alles, was das Ausland jetzt tun kann, ist, die "richtigen" Kräfte, also die Deserteure der Syrischen Armee zu unterstützen und damit den Einfluss radikaler Islamisten und internationaler Terrorgruppen zurückzudrängen.

Bei aller Ungewissheit über ihre Mitglieder und aller Unzulänglichkeit ihrer Organisationsstruktur ist die Freie Syrische Armee derzeit der einzige Akteur, der im Falle eines Regimesturzes das Land wieder stabilisieren könnte. Denn in ihren Reihen finden sich die meisten Überläufer und damit erfahrenes militärisches Personal, darunter mehr als 20 in die Türkei geflohene Generäle.

Die Kämpfe in Damaskus und Aleppo, der Anschlag auf Assads Krisenstab und massenweise desertierende Soldaten zeigen, dass die Freie Syrische Armee immer besser organisiert ist, Unterstützer in den oberen Machtzirkeln hat und den meisten Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Auch wenn sich einzelne Einheiten betont islamisch geben, bekennt sich die Kommandospitze in der Türkei zur religiösen und
ethnischen Vielfalt Syriens.

Racheaktionen verhindern

Mitglieder der Freien Syrischen Armee in Homs im Juli 2012; Foto: Reuters
"Bei aller Ungewissheit über ihre Mitglieder und aller Unzulänglichkeit ihrer Organisationsstruktur ist die Freie Syrische Armee derzeit der einzige Akteur, der im Falle eines Regimesturzes das Land wieder stabilisieren könnte", schreibt Helberg; Foto: Reuters

​​In manchen "befreiten" Gebieten hat die Zeit nach Assad bereits begonnen. Dort kommt es darauf an, Racheaktionen zu verhindern, Sicherheit zu garantieren und die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Eine große Herausforderung angesichts der Wut, des Schmerzes und der Trauer Hunderttausender Syrer.

Die Opposition muss sich zusammenraufen. Der zivile und der bewaffnete Widerstand müssen vor Ort zusammenarbeiten, um einen geordneten Alltag wiederherzustellen und das Land zusammenzuhalten. Strom- und Wasserversorgung müssen funktionieren, die Gewalt darf nur vom Staat ausgehen, ein politischer Übergang muss sichtbar und das Streben nach Gerechtigkeit spürbar werden. Dabei braucht Syriens Opposition Unterstützung aus dem Ausland.

Die internationale Gemeinschaft muss aufwachen und sich ihr Scheitern eingestehen. Sie hat in Syrien 16 Monate lang versagt – politisch, diplomatisch, juristisch, militärisch, selbst humanitär. Die Syrer waren alleine in ihrem Kampf gegen die Diktatur, beim Wiederaufbau und der Befriedung ihres Landes sollten sie nicht mehr alleine sein. Die "Freunde Syriens", also jene Staaten, die sich schon seit langem von Assad distanziert und auf die Seite der Opposition geschlagen haben, sollten sowohl die verschiedenen politischen Fraktionen als auch die Deserteure der Freien Syrischen Armee auf die Machtübernahme vorbereiten. Vielleicht kann die Internationale Gemeinschaft dadurch bei den Syrern etwas von ihrer verlorenen Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Kristin Helberg

© Qantara.de 2012

Die Journalistin Kristin Helberg lebte von 2001 bis 2009 als freie Korrespondentin in Damaskus. Ihr Buch "Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land" erscheint im September im Herder Verlag.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de