Das Ende eines Traumes
Bevor sie in den Bus stieg, war Um Mayas noch am Grab ihres Mannes. Er starb als Kämpfer der Freien Syrischen Armee 2013 bei einem Fassbombenangriff. Dann verbrannte Um Mayas unter Tränen ihre Möbel, damit das Regime diese nicht verkaufen konnte und packte die Kleidung ihrer beiden Kinder ein, erzählt die 29jährige Syrerin den Journalisten der Internetseite Syria Direct. Das Einzige, was ihre Tochter Mayas, sieben Jahre alt, mitnehmen wollte, war ihre Puppe.
Inzwischen sitzen die drei in einer Notunterkunft im zwölf Kilometer entfernten und vom Regime kontrollierten Ort Harjaleh. Der vierjährige Muadh isst zum ersten Mal in seinem Leben Kekse, Schokolade und Eis – sein glückliches Staunen sei ihr einziger Trost, sagt Um Mayas. Die Rebellen wurden mit ihren Familien in die nördliche von der Opposition dominierte Provinz Idlib gebracht.
Ihre Heimat Daraja liegt in Trümmern. Der einst 20.000 Einwohner zählende Ort symbolisiert wie kein anderer das menschliche Drama Syriens. Denn Daraja ist berühmt. Für seine Trauben und seine Revolutionäre, für Massaker und surreale TV-Reportagen, für zivilen Widerstand, oppositionelle Medienmacher, Fassbomben, Hungerblockaden und abgewiesene UN-Konvois. Jetzt steht der Ort im Umland von Damaskus für ein weiteres Kapitel dieses Konflikts: die Kapitulation. Die letzten 8.000 Bewohner – Zivilisten und Rebellen – haben Daraja verlassen, Assad hat gewonnen.
"Syriens kleiner Gandhi"
Dabei hatte vor fünf Jahren alles so vielversprechend begonnen. Früh entwickelt sich Daraja zum Zentrum friedlicher Proteste, Aktivisten gründen ein lokales Komitee, sie glauben an den zivilen Widerstand. Der 26-jährige Ghaith Matar wird zur Ikone dieser Bewegung, er verteilt Blumen und Wasser an Assads Soldaten und wird dafür "Syriens kleiner Gandhi" genannt. Anfang September 2011 – kurz vor der Geburt seines ersten Kindes – wird Matar von den Sicherheitskräften des Regimes verhaftet und zu Tode gefoltert. Westliche Botschafter gehen damals zur Trauerfeier, die EU spricht von einem "weiteren Zeichen der Brutalität, mit der das Regime auf die legitimen Forderungen des syrischen Volkes reagiert".
Als sich die Revolution landesweit militarisiert, etabliert sich in Daraja die Freie Syrische Armee mit 3.000 Kämpfern, die den nahegelegenen Militärflughafen des Regimes in Mezze bedrohen – einer der Gründe, warum Assad den Ort um jeden Preis zurückerobern will. Unter Menschenrechtlern haben Darajas bewaffnete Gruppen einen guten Ruf, auch wenn manche zunehmend islamistisch auftreten.
Bassam Ahmad vom Violations Documentation Center (VDC) kann sich an keinen Fall von Kriegsverbrechen durch die dortigen Rebellen erinnern. Auch willkürliche Angriffe auf Zivilisten seien ihm von Daraja aus nicht bekannt, sagt der ehemalige Direktor des VDC, der seit 2011 die Gewalt aller Kriegsparteien dokumentiert.
Beeindruckend bleibt Darajas ziviler Widerstand. Im Januar 2012 veröffentlichen Aktivisten die erste Ausgabe der Wochenzeitung Enab Baladi ("Heimische Trauben"). Sie wird überwiegend von Frauen gemacht und erreicht jeden Sonntag digital und gedruckt mehrere Hunderttausend Leser, vor allem über die sozialen Netzwerke. Das einzige Mal, das Enab Baladi nicht erscheint, ist Ende August 2012. Damals rückt das Regime mit Soldaten und Shabiha-Milizen in den Ort ein. Sie gehen von Haus zu Haus und richten Bewohner hin, je nach Quelle sterben zwischen 270 und 320 Menschen.
Im Würgegriff des Regimes
Die Berichterstattung des Assad-treuen Fernsehsenders Al-Dunya TV über das Massaker von Daraja gilt als besonders groteskes Beispiel für Regime-Propaganda. Am 25. August 2012 läuft eine entspannte Reporterin in Begleitung von Soldaten durch Daraja und befragt zum Teil schwer verletzte Überlebende nach den verantwortlichen "Terroristen", darunter ein unter Schock stehendes Kleinkind, das noch in den Armen seiner toten Mutter liegt.
Im September 2012 startet das Regime massive Luftangriffe auf Daraja, zwei Monate später riegelt es den Ort komplett ab. Vier Jahre lang wird Daraja ausgehungert und fast täglich bombardiert. Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte hat den Staatsterror in einem eigenen Bericht dokumentiert: 7.864 Fassbomben, acht Angriffe mit Chemiewaffen, drei mit Streumunition, 56 lebenswichtige zivile Einrichtungen wurden getroffen. Die Bewohner ernähren sich von dem, was zwischen den Trümmern wächst, und von Wasser, in dem sie Gewürze oder Blätter kochen. Neun Menschen sterben an Unterernährung und fehlender medizinischer Versorgung, darunter drei Kinder.
Die Welt schaut zu, obwohl sie weiß, was in Daraja vor sich geht. Immer wieder wenden sich Frauen und Kinder mit Hilferufen im Internet an die Öffentlichkeit, zuletzt am 21. August mit einer Vermisstenanzeige: "Hat jemand die UN gesehen? Bitte helft uns sie zu finden!"
Humanitäre Hilfe lässt das Regime in Daraja jahrelang nicht zu, und ohne Assads Einverständnis unternehmen die Vereinten Nationen in Syrien nichts. Als sie endlich die Genehmigung für einen Konvoi erhalten, wird dieser am 12. Mai 2016 von der Vierten Division, einer Eliteeinheit der Armee Assads, am Checkpoint aufgehalten und muss umdrehen.
"Ergebt euch oder sterbt!"
Die auf der anderen Seite wartenden Menschen werden beschossen, ein Vater und sein Sohn sterben. Einen Monat später, am 10. Juni 2016, erreicht die erste und einzige Hilfslieferung die Eingeschlossenen in Daraja. Nachdem die Lastwagen den Ort verlassen haben, wird dieser erneut bombardiert. Beide Vorfälle werden von UN-Vertretern dokumentiert und kritisiert. Doch Assad kann ungestraft weitermachen. "Ergebt euch oder sterbt!" lautet seine Strategie, nicht nur in Daraja.
In den vergangenen Wochen setzt das Regime nach Angaben des Lokalen Rates von Daraja auch Brandbomben ein – Human Rights Watch hat deren Einsatz in den Provinzen Aleppo und Idlib bestätigt – wodurch Felder niederbrennen und am 19. August die letzte Untergrundklinik zerstört wird.
Darajas Bewohner sind am Ende. Sie nehmen den "Evakuierungsplan" des Regimes an, der in Wirklichkeit eine systematische Vertreibung von Assad-Gegnern beabsichtigt. Das Regime säubert die zurückeroberten Gebiete, indem es kritische Bewohner in Regionen der Opposition transportiert und an ihrer Stelle Assad-Unterstützer ansiedelt. Weil die UN diese als humanitäre Evakuierung getarnte politische Säuberung mittragen, wird Assad sie andernorts wiederholen.
Die Bewohner von Daraja haben indes alles verloren. Zurück bleiben nur die Gräber ihrer Angehörigen und eine Puppe. Mayas hat sie dort gelassen, damit sie auf das Haus aufpasst.
Kristin Helberg
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