„Wir wurden unserer Unschuld beraubt“
Die Memoiren von Aziz Binebine sind weder die ersten noch die eloquentesten Berichte aus dem berüchtigten marokkanischen Gefängnis Tazmamart. Und doch gebührt ihnen in der Literatur und in der Geschichte ein bedeutender Platz.
In der Literaturszene ist das Buch auch deshalb wichtig, weil Tahar Ben Jellouns mehrfach ausgezeichneter Bestseller-Roman Cette aveuglante absence de lumière (dt. Die blendende Abwesenheit des Lichts) zu großen Teilen auf einem Interview mit Binebine beruht, der sich allerdings in einem offenen Brief von dem Interview distanzierte. Mit seinem Buch ergreift Binebine die Gelegenheit, seine Geschichte selbst zu erzählen.
Hierzu muss man wissen, dass die meisten Zeugenaussagen von Gefangenen aus Block 1 des Gefängnisses stammen, während Binebine in dem besonders berüchtigten Block 2 untergebracht war.
Der erste Putschversuch
Die Geschichte von Tazmamart beginnt zwei Jahre vor Inhaftierung der ersten Gefangenen: am 9. Juli 1971. Zu diesem Zeitpunkt erhielten Aziz Binebine und andere in der Kadettenschule Ahermoumou den Befehl, sich für Schießübungen am kommenden Tag bereitzuhalten.
Am 10. Juli rückten die Soldaten aus. Einige nahmen offenbar an, sie würden zum Exerzierplatz von Benslimane gefahren. Andere wussten, dass sie zum Palast von König Hassan II. unterwegs waren. Dort – so sagte man ihnen – sei das Leben des Königs in Gefahr. Eines galt für alle Kadetten: Niemand wusste, dass sie an einem Putschversuch mitwirken sollten.
In dieser Hinsicht erfahren wir von Binebine wenig Neues über den Putschversuch. Als er und die ihm anvertrauten Kadetten ihre Fahrzeuge verließen, hatte die Schießerei bereits begonnen. Binebine beschreibt, wie er „verzweifelt und orientierungslos“ durch den Palast irrte. Als ihm klar wird, dass er an einem gescheiterten Putsch beteiligt ist, rennt er zum Parkplatz des Palastes, wo er in einen Kleinwagen mit gesteckten Schlüsseln steigt und zum Haus seines Onkels fährt. Wenig später stellt er sich.
An dieser und an anderen Stellen erzählt Binebine weniger lyrisch als Tahar Ben Jelloun. In Cette aveuglante absence de lumière denkt der Protagonist lebhaft an den Putschversuch zurück: „Wer erinnert sich noch an die weißen Mauern des Palasts von Skhirat? Wer erinnert sich an das Blut auf den Tischdecken, an das Blut auf dem knallgrünen Rasen?“
Poetischer, aber auch irreführender
Ben Jellouns Roman ist sicher poetischer, aber er führt auch in die Irre, vor allem, wenn man ihn gegen Binebines persönliche Erzählung liest.
Binebine wurde in einem Schauprozess verurteilt und zunächst in das Militärgefängnis Kenitra überstellt. Nach dem zweiten Putschversuch im Jahr 1972 machten Gerüchte über den Bau eines Geheimgefängnisses die Runde.
Im August 1973 „drangen Horden von Polizisten und Gendarmen in das Gebäude ein, öffneten eine Zelle nach der anderen, verbanden uns die Augen, legten uns Handschellen an und verluden uns auf Lastwagen, die auf dem Gefängnishof bereitstanden“, schreibt Binebine. „Selbst während des Putsches hatte ich keinen derartigen Gewaltausbruch gesehen.“
Die insgesamt achtundfünfzig Gefangenen, die der Beteiligung an den Putschversuchen bezichtigt wurden, flog man von einem Luftwaffenstützpunkt an einen unbekannten Ort. Von dort wurden sie auf Lastwagen in das geheime Gefängnis gebracht. Es sollte Jahre dauern, bis ihre Freunde und Angehörigen überhaupt ahnten, wo sie sich befanden.
Mauer des Schweigens
Der Vater von Aziz Binebine – ein Vertrauter von Hassan II. – verstieß seinen Sohn kurz nach dem Putsch öffentlich. Doch ab Herbst 1973 begaben sich die Angehörigen vieler Gefangener auf eine unermüdliche Suche nach den Verschollenen: vor allem Mütter, Ehefrauen und Töchter. Als allmählich Nachrichten über das Gefängnis und dessen Standort durchsickerten, erhoben Aktivisten öffentlich ihre Stimme. Doch die marokkanischen Behörden stritten konsequent alles ab.
Erst 1990 mit der Veröffentlichung von Gilles Perraults Notre Ami le Roi (dt. Unser Freund, der König) (1990) zeigte sich ein deutlicher Riss in der Mauer des Schweigens um Tazmamart. In der Folgezeit machten Aktivisten erneut Druck, unterstützt von einer internationalen Öffentlichkeit. Im September 1991 holte man schließlich Aziz Binebine und die anderen siebenundzwanzig Überlebenden aus ihren Zellen. Sie standen „wie am ersten Tag da, aber ohne unsere Gesundheit, unsere Jugend und unsere Unschuld.“
Die Gefangenen wurden kurz der Presse vorgeführt. Man machte Fotos. Doch ihre Geschichten haben andere erzählt. Bis zum Tod von Hassan II. (1929 - 1999) übten sich auch die Gefangenen in Schweigen. Als der ehemalige Gefangene Ahmed Marzouki einige Jahre nach seiner Freilassung sein Buch Tazmamart Cellule 10 (dt. Tazmamart Zelle 10) schrieb, half ihm dabei der Journalist Ignace Dalle. Ein erstes Kapitel erschien 1993. Beide Männer entschieden daraufhin laut der Literaturwissenschaftlerin Johanna Sellman, die Veröffentlichung so lange zu verschieben, bis „sich das politische Klima ändert“.
Im Juli 1999 starb Hassan II. Sein Tod markierte das Ende der gewaltsamen Repressionen in den „bleiernen Jahren“ von Marokko. In den Jahren 1999 bis 2000 erschienen die Erlebnisse des ehemaligen Tazmamart-Gefangenen Mohamed Raiss in einer arabischsprachigen Zeitung. Daraufhin kam es förmlich zu einer Flut weiterer Erzählungen, darunter der Roman von Tahar Ben Jelloun. Er wurde 2001 veröffentlicht und beruht offenbar auf einem Gespräch mit Binebine, ohne dass letzterer offenbar wusste, dass seine Erlebnisse in eine fiktive Erzählung einfließen sollten.
Der Sohn des Hofnarren
Binebine erzählt vorwiegend die Geschichten der Mitgefangenen im Schreckensblock 2 von Tazmamart und verrät uns dabei nicht viel über sein eigenes Befinden.
Binebine stammt aus einer bekannten Familie, doch wir hören wenig über seinen Vater, den er meist den Hofnarren des Königs nennt. Übrigens schrieb sein Bruder Aziz, der Künstler und Schriftsteller Mahi Binebine, mit Le fou du roi (dt. Der Narr des Königs) ein fiktionalisiertes Porträt des Vaters. Und obwohl Aziz wenig über den Vater sagt, wird doch deutlich, wie verletzt er ist.
An Binebines Erzählungen erschrecken besonders die seelischen Grausamkeiten, die die Gefangenen einander zufügten.
Gegen Ende der Memoiren gerät Binebine mit seinem Mitgefangenen Kapitän Bendourou in einen erbitterten Streit. Binebine nennt den Mann einen Hahnrei, worauf dieser ihm entgegnet, er sei von seinem eigenen Vater verraten worden. Kurz darauf verlässt Bendourou der Lebenswille.
Dieses bösartige Wortgefecht findet auch in Ben Jellouns Roman Erwähnung. Binebine berichtet, wie er seine Worte bereute, und darüber, dass er anschließend versucht habe, dem Mann beizustehen: Ich „wusch seine Töpfe und Kleider, während er mich verfluchte und mir unterstellte, seine Sachen zu stehlen.“ Bendourou starb im Mai 1991, kurz vor der Freilassung.
Unter dem Strich ist die Erzählung von Binebine über Tazmamart weniger kunstfertig als die übrigen Zeugnisse, die meist mit Unterstützung von Schriftstellern entstanden. Aber das ist es auch, was Binebines Erzählung so schmerzhaft real macht.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Peter Lammers