Assad hungert Zivilisten aus - und niemand hält ihn auf
Das Aushungern von Zivilisten als Mittel der Kriegsführung ist verboten - so klar und eindeutig steht es in den Genfer Konventionen. Ein Verstoß dagegen ist ein Kriegsverbrechen, auch in innerstaatlichen Konflikten. In Syrien allerdings ist es gängige Praxis. Seit Jahren. Und inzwischen auch auf allen Seiten des Krieges. Dieser zutiefst grausamen und menschenverachtenden Taktik bedienen sich Rebellen und die Terrormiliz "Islamischer Staat".
Keine Seite aber setzt die Belagerung von zivilen Gebieten, die wahllose Bombardierung und den Hunger derart systematisch als Waffe ein, wie das Regime von Baschar al-Assad und die mit ihm verbündeten Milizen wie die von Iran gesteuerte Hisbollah. Verlieren sie die Kontrolle über Gebiete, dann versuchen sie, mit allen Mitteln den Menschen dort das Leben zu Hölle zu machen.
44 Lastwagen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz haben am Montag (11.01.2016) die von Regierungsgegnern kontrollierte Stadt Madaja an der Grenze zu Libanon erreicht. Hier haben die 42.000 eingeschlossenen Menschen seit Oktober keine Hilfslieferungen mehr erhalten. Sie mussten Gras essen, Blätter, Hunde und Esel.
Es ist schwer nachzuprüfen, ob die erschreckenden Fotos von ausgemergelten Kindern, die im Internet und im arabischen Fernsehen kursieren, wirklich alle aus Madaja stammen. Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" jedoch hat seit 1. Dezember mindestens 28 Fälle registriert, in denen Menschen dort an Hunger oder Folgen von Unterernährung gestorben sind.
Ein Kriegsverbrechen
Es spielt keine Rolle, ob die Rebellen, wie das Regime behauptet, Nahrungsmittel für ihre Kämpfer bunkern. Nichts kann die monatelange Blockade rechtfertigen. Und nichts rechtfertigt es, wenn die radikalen Rebellen der "Ahrar al-Sham", die von Saudi-Arabien unterstützt werden, in von der Regierung gehaltenen Schiiten-Dörfern das Gleiche antun. Die Opfer sind immer wehrlose Zivilisten, die keine Wahl hatten, unter wessen Herrschaft sie leben. Und zuerst sterben immer die Schwächsten: Kinder, Mütter, Alte, Kranke.
400.000 Syrer müssen derzeit laut den UN unter Belagerung leben, 160.000 mehr als noch vor einem Jahr. Fast die Hälfte ist von Truppen der Regierung umzingelt, nochmals fast 200.000 durch den "Islamischen Staat" in Regierungsgebieten nahe der Stadt Deir al-Zohr sowie 20.000 weitere durch Rebellen. Nirgends wird das Versagen der internationalen Gemeinschaft so deutlich, wie an ihren Schicksalen. Madaja hat zwar zu einem internationalen Aufschrei geführt, wie zuvor schon die Belagerung von Yarmouk oder Homs.
Den UN-Sicherheitsrat muss Assad nicht fürchten
Den Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, die ungehinderten Zugang für Hilfsorganisationen fordern, hat dies aber nicht zur Durchsetzung verholfen. Russland und Iran tun nichts, um das Regime zu deren Einhaltung zu zwingen. Laut den UN wird nur jede zehnte ihrer Anfragen genehmigt, Hilfe in belagerte Gebiete zu bringen. Und auch die Saudis üben nicht den nötigen Druck aus, um die Rebellen zu disziplinieren.
Von den UN vermittelte lokale Waffenstillstände, oft die einzige Chance der notleidenden Bevölkerung zu helfen, sind in der Regel nichts anderes, als durch Belagerung erzwungene Kapitulationen der Rebellen. Das Regime verbucht sie, wie in Homs, als Erfolge. Und fühlt sich ermutigt, anderenorts die Eingeschlossenen vor die Wahl zu stellen: "Gebt auf - oder ihr werdet vernichtet!"
Den UN-Sicherheitsrat muss Assad nicht fürchten. Während die Rot-Kreuz-Lastwagen Madaja erreichen, zieht er die Schlinge um Muadhamija zu, einen Vorort von Damaskus, den das Regime 2013 schon mit Chemiewaffen attackiert hatte. Den Belagerten aber ist nicht geholfen mit der vagen Aussicht, dass einst der Internationale Strafgerichtshof ihre Peiniger zur Rechenschaft ziehen könnte.
© Süddeutsche Zeitung 2016
Paul-Anton Krüger