Assad und die Sternstunde der arabischen Despoten

Unter dem Vorwand des "Krieges gegen den Terror" werden die autokratischen arabischen Regimes künftig noch härter gegen die Opposition im eigenen Land vorgehen. Dagegen dürfte im Westen wohl kaum jemand mehr die Stimme erheben – zu tief sitzt der Schrecken angesichts der jüngsten Terroranschläge des IS, meint der marokkanische Publizist Ali Anouzla.

Von Ali Anouzla

Fernab von allen Verschwörungstheorien und zahlreichen Szenarien darüber, wer eigentlich hinter dem "Islamischen Staat" (IS) steht, wer ihn unterstützt, finanziert und schützt, gibt es bis heute nichts, womit man die vielen Spekulationen wirklich untermauern könnte. Zwar ist es möglich, dass der Tag kommt, an dem die ganze Wahrheit über diese Organisation bekannt wird. Bislang lassen sich jedoch nur auf zwei Fragen mit Bestimmtheit Antworten finden, nämlich: Wer profitiert von der Existenz des IS, von seinen Dienstleistungen und terroristischen Aktivitäten? Und: Wer sind die Opfer der Dschihadisten?

Es gibt zahlreiche Nutznießer des IS, auch wenn jene Profiteure vorgeben, den Dschihadisten feindlich gesonnen zu sein und einen vermeintlichen Krieg gegen sie lanciert haben. Bei diesen Nutznießern handelt es sich um Staaten und Regimes, die dem IS öffentlich die Feindschaft bekundet haben. Tatsächlich aber haben sie sich mit dessen Existenz und Fortbestehen arrangiert, da sie sich davon politische Profite versprechen. Immerhin, es sind nicht wenige.

Der erste dieser politischen Profiteure ist das Schlächter-Regime von Baschar al-Assad, das weiter seine schützende Hand über die IS-Hochburgen in Raqqa hält, sie von seinen Fassbomben ausspart und damit den IS ungehindert wachsen und gedeihen lässt – ein billiger Trick Assads, mit dem er der Welt vormachen will, angeblich einen erbarmungslosen "Krieg gegen den Terror" zu führen, wie es das Regime ausdrückt.

Nachdem nun die Büchse der Pandora geöffnet wurde, ist es also nicht verwunderlich zu hören, wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel dem syrischen Machthaber Assad den Hof macht und eine Allianz mit ihm zur Bekämpfung des IS-Terror als wichtig erachtet. Schließlich ist der Terror längst im Herzen Europas angekommen und überschwemmt dessen Staaten mit hunderttausenden Flüchtlingen.

Iran im Aufwind

Der zweite Akteur, der aus der Existenz des IS politisches Kapital schlägt, ist das iranische Regime. Der Führung in Teheran ist es nach jahrelangen Marathonverhandlungen gelungen, den Westen dazu zu zwingen, ein Nuklearabkommen zu unterschreiben, das das Atomprogramm des Iran sichert: Unmittelbar nachdem Mossul in die Hände des IS fiel, war der Westen dermaßen erschrocken über die rasante Ausbreitung der Terrormiliz, dass er sich umgehend um eine Kooperation mit dem iranischen Regime bemühte, um die IS-Gefahr zu eliminieren, und zwar am Brandherd selbst.

Der Marokkaner Ali Anouzla; Quelle: Reporter ohne Grenzen
Der marokkanische Journalist Ali Anouzla ist Geschäftsführer und Chefredakteur der Webseite „lakome.com“, sowie Gründer zahlreicher – mittlerweile verbotener – marokkanischer Zeitungen. Er zählt zu den wenigen unabhängigen Journalisten seines Landes und deckte in der Vergangenheit durch seine investigativen Recherchen immer wieder Menschenrechtsverletzungen auf. 2014 wurde Anouzla der Preis „Leaders for Democracy“ verliehen. 2015 erhielt er den Raif-Badawi-Award für couragierte Journalisten.

Doch jetzt, nach mehr als einem Jahr, hat sich herausgestellt, dass die iranische "Unterstützung" im Krieg gegen den IS erkennbar nicht viel gebracht hat. Denn Teheran versucht bis heute, das konfessionelle schiitische Regime in Bagdad zu schützen sowie das eigene Regime im Westen reinzuwaschen. Dort wiederum werden ja seither die Menschenrechtsverletzungen im Iran ungleich leiser kritisiert.

Zar Putins Geländegewinne

Der dritte Nutznießer des "Weltkrieges gegen den IS" ist Russland und dessen Zar, Wladimir Putin. Tatsächlich hat er es durch seine Syrienintervention fertig gebracht, die Verbrechen seiner Streitkräfte in der Ukraine sowie die Annexion der Halbinsel Krim, im Westen in Vergessenheit geraten zu lassen.

Immerhin steht er knapp davor, das seinem "Reich" auferlegte westliche Wirtschaftsembargo zu kippen und, noch mehr: Frankreich für sich zu gewinnen – jenem Land, das sich nach den Ereignissen in der Ukraine so vehement für die Verhängung striktester Sanktionen gegen Moskau eingesetzt hatte (und deshalb auch einen geplanten Kriegsschiffsdeal mit Putin kurzerhand platzen ließ). Und nun bittet also ausgerechnet Frankreich Putin bei der Koordinierung von Luft- und Raketenangriffen auf Syrien und den Irak. Im Visier dieser Angriffe steht dabei in der Regel die moderate Opposition, der Großteil der Opfer sind Zivilisten. Die IS-Terroristen wiederum können sich noch immer frei bewegen, während sich ihr Kalifat räumlich wie "ideologisch" immer weiter ausbreitet.

Der vierte Profiteur der IS-Verbrechen ist Israel: Als sich das globale Interesse auf die Abscheulichkeiten der Dschihadisten richtete, nutzte man dort die Gunst der Stunde, um unbehelligt die Siedlungspläne in den besetzten palästinensischen Gebieten weiter umzusetzen. Das war sogar während der "Dritten Intifada" der Fall, die schließlich auch Gebiete innerhalb Israels erfasste. Kaum war die Intifada ausgebrochen, kam es zu den Paris-Anschlägen, die der IS für sich reklamierte – worauf alle Blicke auf diesen Schauplatz gelenkt wurden und Israel ungestört an seinem Siedlungsvorhaben festhalten und vollendete Tatsachen vor Ort schaffen konnte.

Triumph der Autokraten

Kremlchef Putin (l.) und Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi; Foto: picture-alliance/dpa/APA
Im Club der Diktatoren: Im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hatten sich Kremlchef Putin und Ägyptens Präsident Al-Sisi für die Beteiligung der syrischen Regierung ausgesprochen. Die Kontakte zwischen Moskau und Kairo hatten sich zuletzt intensiviert. Die beiden Länder wollen unter anderem auch die Kooperation ihres Militärs sowie ihrer Geheimdienste stärken.

Der fünfte und größte Profiteur aber, der einen Nutzen aus der unmittelbaren Gefahr des IS zieht, sind die autokratischen Regimes im arabischen Raum, die ihre Bevölkerung nach wie vor unterdrücken.

Im Namen des "Krieges gegen den Terror" werden sie künftig noch härter gegen ihre Bürger durchgreifen, wobei sie die wenigen kritischen Stimmen, die man aus dem Westen noch hört, nicht kümmern. Schließlich steht man dort noch immer unter Schock, seitdem der IS-Terror direkt im Zentrum Europas angekommen ist.

Was nun die vielen Opfer des IS angeht, die Opfer seiner Gewaltverbrechen und absurden Kriege, so sind dies zuallererst jene unschuldigen Syrer und Iraker, die direkt unter der Herrschaft dieser blutrünstigen Terrororganisation leben, sowie jene, die täglich unter dem Bombardement all jener Staaten sterben, die über sie hergefallen sind – um sie zu retten (!).

Doch die Opfer des IS sind auch die unschuldigen Emigranten und Flüchtlinge, die auf offener See sterben; oder die Vertriebenen, die Kälte und Hunger erleiden, während sie vor verschlossenen Grenzübergängen ausharren. Ebenso die unschuldigen Menschen, die in den Straßen von Paris, seinen Cafés und Vergnügungsorten getötet wurden.

Doch zu den Opfern des IS gehören auch die Millionen arabischen Einwanderer in den westlichen Exilländern. Denn dort werden sie mittlerweile als mutmaßliche Terroristen beäugt und so lange verdächtigt, bis sie ihre Unschuld unter Beweis gestellt haben, indem sie dort zurückgehen, woher sie gekommen sind – ganz so, wie es die Rechtsextremen im Westen schon lange fordern.

Ali Anouzla

© Qantara.de 2015

Übersetzung aus dem Arabischen von Iris Mostegel