10 Kinos für 40 Millionen Menschen

"Turtles can fly" von Bahman Ghobadi hat auf der Berlinale den Friedensfilmpreis erhalten. Der Film konfrontiert den Zuschauer mit der aktuellen Situation im kurdischen Teil des Irak.

Von Ariana Mirza

​​Seit dem Welterfolg seines Films "Zeit der trunkenen Pferde" gilt Bahman Ghobadi als wichtigster Vertreter des zeitgenössischen kurdischen Kinos.

Sein jüngstes Werk "Turtles can fly" – "Schildkröten können fliegen" wurde beim Filmfest in San Sebastian ausgezeichnet und galt als Geheimtipp der diesjährigen Berlinale. Die anrührende Geschichte über Waisenkinder, die sich als Minensucher verdingen, ist der erste Spielfilm, der nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak entstand.

Schon in seinem Kinoerfolg "Zeit der trunkenen Pferde" thematisierte Ghobadi die Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen im Grenzgebiet zwischen Iran und Irak.

Verlorene Kindheit in Kurdistan

Auf der diesjährigen Berlinale zeigte der 35jährige Regisseur wiederum eindringliche Bilder einer verlorenen Kindheit, denn "in Kurdistan muss man vom Moment der Geburt an erwachsen sein", so Ghobadi.

Karg und voller Entbehrungen ist das Leben, das der Film beschreibt. Krieg und Verfolgung haben tiefe Wunden geschlagen. Weder die Körper noch die Seelen der Kinder blieben unversehrt. Selbst die größte Liebe kann diese Verletzungen nicht heilen.

Dass "Turtles can fly" zu wenig Hoffnung und Zuversicht vermittele, diesen Vorwurf äußerten während der Berlinale einige der zahlreichen kurdischen Zuschauer. "Es gibt doch auch ein neues, besseres Kurdistan. Gut ausgebildete Menschen und Fortschritt." Eine optimistische Perspektive, die Ghobadi so wenig einnehmen mag, wie die meisten kurdischen Filmemacher der Gegenwart.

Der inhaltliche Schwerpunkt, der kurdische Produktionen verbindet, ist die Hinwendung zum einfachen Menschen, der sein Schicksal nicht selbst bestimmen kann. Ob im Exil oder in der Türkei, in Iran und seit neuestem auch im Irak: ihre Themen finden die kurdischen Regisseure und Regisseurinnen in der Auseinandersetzung mit dem bedrückenden Alltag ihrer Landsleute.

In Syrien, dem vierten Staat, in dem Kurden beheimatet sind, existiert so gut wie keine Filmproduktion, geschweige denn ein kurdisches Filmschaffen. Stattdessen sind kurdische Regisseure, die aus Syrien stammen, in Nordamerika und Europa aktiv.

Eigene kurdische Filmsprache

Die Produktionen dieser Filmemacher stoßen seit einigen Jahren besonders auf internationalen Festivals und bei der Filmkritik auf großes Interesse. Dies liegt in erster Linie an den ästhetischen Eigenarten des kurdischen Kinos.

Bei aller wirklichkeitsnahen Beschreibung einerseits, existiert andererseits keine Scheu vor einer magischen Metaebene. Neben den Protagonisten agieren auch andere, verborgene Kräfte. Die unwirtliche und zugleich mystische Landschaft Kurdistan entfaltet unter dem Auge der Kamera ein bizarres Eigenleben.

Die Elemente Luft, Erde, Feuer und Wasser werden in ihrer ganzen Macht spürbar. Der Blick in das Gesicht eines alten Mannes oder in die Augen eines kleinen Mädchens erzählt einen ganzen Lebensweg.

Dieses Zusammenspiel einer bewegenden Geschichte und atemberaubender Bilder zeichnet besonders die Filme Bahman Ghobadis aus. Wundersame Dinge geschehen in der kargen Landschaft Kurdistans - und dieses Wundersame findet sich auch in der filmischen Inszenierung.

Den zweiten Aspekt, der viele kurdische Produktionen auszeichnet, erklärt Bahman Ghobadi als zwangsläufiges Mittel: "Ich zeige so Bedrückendes, dass ich es mit sehr viel Humor erträglich machen muss."

Entgegen der europäischen Autorenfilm-Tradition ambitionierter, sozialkritischer Filme scheut das kurdische Kino nicht vor komischen Momenten zurück. Der Blick auf die Protagonisten ist stets liebevoll, aber ihre skurrilen Eigenarten bieten oft Grund zu Heiterkeit.

"Die Erfahrungen der Kinder haben den Film geprägt"

Ebenso selbstverständlich wie hier Tragik und Komik verwoben werden, so natürlich und überzeugend agieren auch die Laiendarsteller in "Turtles can fly" – "Schildkröten können fliegen".

"Sie spielen im Grunde ihr eigenes Leben. Ich habe kein festes Drehbuch gehabt. Die Erfahrungen der Kinder haben den Film geprägt." Diese Wahrhaftigkeit des Erzählten ist jede Minute des Films spürbar. Und man glaubt es ohne weiteres, wenn der Regisseur erklärt:

"Die Kinder hätten einen Kulturschock erlitten, hätten sie mich zur Berlinale begleiten können. Ihre Welt, ist die, die im Film gezeigt wird."

Bahman Ghobadi drehte "Turtles can fly" – "Schildkröten können fliegen" an Originalschauplätzen im Irak, wo die neue kurdische Verwaltung die Dreharbeiten tatkräftig unterstützte. Der Regisseur, der den Film mit Krediten und Privatmitteln finanzierte, war sehr erfreut über diese Kooperation.

"Man hat dort verstanden, dass es wichtig ist, über das Kino eine Weltöffentlichkeit zu erreichen." Dass der Film in vielen Kinos in Deutschland gezeigt wird, dafür wollen der kurdische Filmverleih Mitosfilm und die Hilfsorganisation medico international sorgen. Medico international kümmert sich seit Jahren um Minenopfer in Kurdistan und Afghanistan.

Die kurdische Bevölkerung, deren Leid im Mittelpunkt der Geschichte steht, wird jedoch weder im Irak noch im angrenzenden Iran die Möglichkeit haben, den Film zu sehen.

"Es gibt im gesamten Gebiet nur 10 Kinos für 40 Millionen Menschen", erklärt Bahman Ghobadi. Und dann setzt er hinzu, er habe den Film bislang nur einmal vor einheimischem, kurdischem Publikum zeigen können: "Die Menschen haben mich umarmt und geweint vor Rührung."

Ariana Mirza

© Qantara.de 2005

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"Macht endlich CNN und El Dschasira aus"
"Schaut lieber meinen Film an." Mit diesem provokanten Aufruf will der kurdische Regisseur Bahman Ghobadi auf seinen Film "Marooned in Iraq" (Verloren im Irak) über die Lage der Kurden aufmerksam machen.

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Bahman Ghobadis Website
Mitosfilm-Filmverleih