Vorurteilsfreie Sicht über Grenzen hinweg
Mit dem einfühlsamen Porträt einer jugendlichen Außenseiterin in "En garde" gewann die Hamburger Regisseurin Ayse Polat in Locarno den Silbernen Leoparden. Jetzt muss sie feststellen, dass ihre kurdische Herkunft für die deutsche Medienlandschaft oftmals interessanter erscheint als ihr Film. Ariana Mirza berichtet.
Als Ayse Polat letztes Jahr mit "En garde" in Locarno den Silbernen Leoparden gewinnt, ist sie glücklich darüber, dass ihr Porträt einer jugendlichen Außenseiterin sowohl künstlerisch als auch inhaltlich überzeugt.
Auf dem internationalen Filmfestival wird über die "zweite Ebene der Wahrnehmung" in Polats Film diskutiert, über visuelle und akustische Mittel, über die Tiefe ihrer Charakterstudie. Eben über all jenes, was einen guten Film ausmacht. Dass die Regisseurin kurdischer Herkunft ist, als Kind nach Deutschland kam und seither in Hamburg lebt, das spielt bei der Jury-Entscheidung keine Rolle.
Nation und Herkunft im Medieninteresse
Zurück in Deutschland muss sich die Preisträgerin einer anderen Sichtweise stellen: Ihr Werk scheint in erster Linie im Zusammenhang mit ihrer persönlichen Vita interessant. "Gleich zu Anfang eines Interviews wird die obligatorische Frage zu meiner Biografie gestellt", berichtet die 34jährige Filmemacherin.
Oftmals wirke es so, als seien die hiesigen Medienvertreter zwanghaft auf der Suche nach dem "exotischen" Element in ihrem Film. Dabei thematisiert "En garde" die Leidens- und Hoffnungsgeschichte einer deutschen Jugendlichen namens Alice (Maria Kwiatkowsky), die von ihrer Mutter in ein Heim abgeschoben wird.
Ganz unabhängig von Fragen der Nationalität berichtet Polat in ihrem Film vom Gefühl der Fremde - im eigenen Land und im eigenen Leben.
Der Erfolg des Films ist neben der großartigen Darstellerleistung vor allem der Qualität des Drehbuchs und dem Ideenreichtum in der Umsetzung zu verdanken. Die Regisseurin weiß augenscheinlich um die Tücken des Genres.
Klischees des Internatsfilms und gängiger Teenagerkomödien werden in "En garde" keinesfalls ignoriert sondern ironisch gebrochen. Der Kampfsport Fechten führt hier zwei Mädchen zusammen, die zunächst nur das Gefühl der Isolation und des "anderen Blicks auf die Dinge" verbindet.
Die junge Kurdin Berivan (Pinar Erincin), die im Heim auf ihre Abschiebung wartet, wird für Alice nach und nach zur Vertrauten. Eine Begegnung, die das weitere Schicksal der 16-Jährigen grundlegend beeinflusst.
Migranten als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft
Auf die Frage, warum ausgerechnet ein kurdisches Mädchen die Rolle der Freundin spielen würde, antwortet die Regisseurin Ayse Polat lapidar, weil dies ganz einfach realistisch sei. Es gäbe nun einmal viele Menschen unterschiedlicher Herkunft in Deutschland, und in ihren Filmen würden auch zukünftig Migranten als "selbstverständliche Figuren", als Teil der deutschen Gesellschaft auftauchen.
Es ist keine ethnisch oder kulturell bedingte Solidarität, die Polats Figuren in "En garde" zueinander führt, sondern ihre individuelle, menschliche Nähe. "Warum muss eine Identität nur über die Nationalität definiert werden?" Ayse Polat hat das Denken in so eng gefassten Kategorien satt. "Dass ich Kurdin bin, das ist doch nur einer von vielen Punkten, die mich als Person ausmachen."
Aber ist dies nicht ein wichtiger Punkt? Ist es nicht eine besondere Position, die es der Filmemacherin erlaubt, einen enthüllenderen Blick auf die Gesellschaft zu werfen, in der sie lebt? "Sicher, wenn man in ein Land kommt und die Sprache nicht versteht, die Kultur nicht kennt, dann beobachtet man natürlich genauer. Ich habe mich zunächst nicht als Teil dieser Gesellschaft gefühlt, eher als Beobachterin", entgegnet Ayse Polat nachdenklich.
Sie habe auch eine "ganz andere Definition von Heimat", fügt sie hinzu. Sie fühle sich am ehesten als "Hamburgerin", denn hier habe sie 28 Jahre ihres Lebens verbracht. Zwischen den Kulturen zu stehen, das müsse nichts Negatives bedeuten, beschreibt sie die Erfahrung ihrer eigenen Vita.
Vorurteilsfreie Sicht über kulturelle Grenzen hinweg
Verschiedene Kulturen zu kennen, das bedeutet für Ayse Polat auch, künstlerisch über Grenzen hinweg zu sehen. So zählt sie sowohl David Lynch als auch Michelangelo Antonioni und Stanley Kubrick zu ihren Vorbildern, bewundert aber gleichzeitig die Arbeiten des kurdischen Regisseurs Yilmaz Güney.
Der 1984 verstorbene Güney gilt als der "Vater des kurdischen Films", seine Filme sind jedoch außerhalb der Türkei weitgehend unbekannt geblieben. "Ein Volk, dessen Sprache so lange Zeit verboten war, hat sicher einen anderen Zugang zu Bildmethaphern", erklärt Ayse Polat die Besonderheit "kurdischer" Filme.
Und auch die engagierte Parteinahme kurdischer Regisseure für ihre Landsleute sei der Jahrzehnte währenden Verfolgung und Unterdrückung geschuldet, mutmaßt die Regisseurin. "Die neue Toleranz" gegenüber den Kurden herrsche beispielsweise in der Türkei erst seit kurzer Zeit, und man müsse abwarten, wie sich die Situation langfristig entwickelt.
Der parallele Erfolg der kurdischen Regisseure Bahman Ghobadi und Hiner Salim, die dieses Jahr Preise auf den Filmfestivals in San Sebastian und Venedig gewannen, freut Polat sehr. Bahman Ghobadi, der schon mit "Zeit der trunkenen Pferde" einen internationalen Erfolg feiern konnte, wird mit seinem neuesten Film "Turtles can fly" auch auf der Berlinale vertreten sein.
Unabhängig von Nationalität und Herkunft wird mit dieser Einladung Ghobadis außerordentliche künstlerische Leistung gewürdigt. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Geschichte, die er zu erzählen hat und wie er sie zu erzählen vermag. So unvoreingenommen und vorurteilsfrei sieht die Sichtweise aus, die sich Ayse Polat wohl für alle Filmemacher wünscht.
Ariana Mirza
© Qantara.de 2004