Palästinenser nach Ägypten?
Herr Hever, angesichts des Krieges in Nahost fragen sich viele Beobachter, welches langfristige Ziel Israel mit der Invasion im Gazastreifen verfolgt. Die rechtsgerichtete israelische Denkfabrik Misgav-Institut hat einen brisanten Bericht veröffentlicht, in dem von "ethnischer Säuberung“ des Gazastreifens die Rede ist. Was genau sieht der durchgesickerte Plan vor?
Shir Hever: Das Misgav-Institut hat einen umfangreichen Plan für die Umsiedelung der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens auf die ägyptische Sinai-Halbinsel ausgearbeitet. Das erklärte Ziel: Den Gazastreifen von seinen palästinensischen Bewohnern ethnisch zu säubern. In dem Strategiepapier wird argumentiert, dass die Finanzkrise in Ägypten eine Gelegenheit sei, das Land zur Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge zu drängen. Es wird davon ausgegangen, dass westliche Regierungen Ägypten im Gegenzug für die Zusammenarbeit bei der Umsetzung des Plans Schulden erlassen würden.
Investitionen in den Bau von Unterkünften für die Flüchtlinge und in die Infrastruktur sollen durch internationale humanitäre Hilfe gedeckt werden. Damit würden Gelder in einer derartigen Höhe in die ägyptische Wirtschaft fließen, dass sie, so die Überlegung, ausreichen würden, um Präsident Abdel Fateh Al-Sisi zum Einlenken zu bewegen und die Umsiedlung der Bevölkerung zuzulassen.
Wie ernst muss man die Pläne nehmen?
Nun ist es ja erstmal nur ein Institut, das so etwas vorschlägt. Wie realistisch ist es, dass die israelische Regierung sich den Plan zu eigen macht?
Hever: Es gibt enge Verbindungen zwischen dem Misgav-Institut und der Regierung. Es ist eine Nachfolge-Organisation des Instituts für zionistische Strategie, das ein staatlich finanziertes Propagandaorgan war. Das Misgav-Institut ist sehr neu und wurde im April dieses Jahres von Meir Ben Shabat, dem früheren Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrates gegründet.
Misgav ist in den israelischen Medien aktiv und steht in Verbindung mit Kohelet, der einflussreichsten Denkfabrik Israels, die die Justizreform geplant hat, die den Staat seit Januar dieses Jahres erschüttert. Der Autor des Berichts über ethnische Säuberung ist Amir Weitman, ein hochrangiges Mitglied der israelischen Regierungspartei Likud.
Man kann mit Sicherheit sagen, dass Misgav Zugang zu den Entscheidungsträgern hat und die Wünsche führenden Politiker vertritt. Und: Der Plan, den Gazastreifen durch die Vertreibung von 2,3 Millionen Menschen vollständig zu entvölkern, wurde bereits vom Geheimdienstministerium akzeptiert! Allerdings nicht von anderen Ministerien; das Finanzministerium beispielsweise plant stattdessen den Bau jüdischer Siedlungen in Gaza.
Scheint es für Sie vorstellbar, dass Ägypten einem solchen Plan aus wirtschaftlicher Not zustimmen könnte?
Hever: Ägypten befindet sich in der Tat in einer Finanzkrise und das Misgav-Institut ist der Ansicht, dass der ägyptische Staat keine andere Wahl haben wird, als jeden Plan im Gegenzug für den Erlass seiner Schulden zu akzeptieren. Aber die USA werden nicht so schnell so viel Geld ausgeben, um Israels Expansionspläne zu finanzieren, und Israel selbst kann sich eine solche Ausgabe nicht leisten.
Außerdem geht es nicht nur um Geld, sondern auch um die Legitimität und Stabilität des Al-Sisi-Regimes. Die öffentliche Meinung in Ägypten ist sehr stark gegen die Unterstützung einer “ethnischen Säuberung” des Gazastreifens.
US-Außenminister Blinken hat beim G7-Außenministertreffen unmissverständlich klar gemacht "dass die Palästinenser nicht gewaltsam aus dem Gazastreifen vertrieben werden“ dürfen, "nicht jetzt, nicht nach dem Krieg". Beruhigen Sie diese klaren Worte aus den USA?
Hever: Die USA werden jetzt in Israel als großer Verbündeter gepriesen, aber US-Aufrufe zur Achtung von Menschenleben werden ignoriert. Es gibt eine Sache, die die USA tun können – sie können aufhören, Israel Waffen zu liefern. Im Jahr 2014 stoppte Präsident Obama eine Lieferung von Hellfire-Raketen an Israel während der Invasion in Gaza, und Israel kündigte sofort einen Waffenstillstand an. Blinken hingegen spricht leere Worte.
Wie wird in Israel berichtet über die Pläne des Misgav-Instituts und deren mögliche Umsetzung?
Hever: Die Pläne sind wohlbekannt und werden neben anderen Ideen wie der Tötung der gesamten Bevölkerung von Gaza oder der Eroberung großer Teile von Gaza diskutiert. In den israelischen Medien werden diese Pläne auf einer praktischen Ebene diskutiert, mit Fragen wie "Wird die internationale Gemeinschaft dies akzeptieren?“. Eine Diskussion auf einer moralisch-ethischen Ebene findet nicht statt. Ich bin schockiert darüber und habe diese Art von Sprache in Israel noch nie in den großen Zeitungen gehört.
Wird es zu einer zweiten Nakba kommen?
Mehrere hochrangige UN-Experten warnen vor der Vertreibung eines ganzen Volkes. Verschließen Europas Politiker die Augen vor einem solchen Szenario?
Hever: Europäische Politiker machen sich mitschuldig an den israelischen Verbrechen. Sie verkaufen Waffen an Israel mit dem Wissen, dass sie für Kriegsverbrechen gegen wehrlose Zivilisten eingesetzt werden. Die UN sind hingegen sehr viel klarer als Europa – wir hören deutlichere Stimmen von der UN, Stimmen des Gewissens und der Menschlichkeit, auch aus Südafrika, Kolumbien, Brasilien und anderen Ländern.
Droht eine zweite Nakba, eine Vertreibung der Palästinenser von nie dagewesenem Ausmaß?
Hever: Der Begriff "Nakba“ wird häufig missverstanden. Für die Palästinenserinnen und Palästinenser ist die Nakba nie beendet worden. Sie dauert so lange an, wie die Flüchtlinge nicht in ihre Heimat zurückkehren dürfen.
Die Israelis haben die Existenz der Nakba lange geleugnet. Die derzeitige rechtsextreme Regierung betrachtet die Nakba nur als den Moment der ethnischen Säuberung, der Massendeportation von Palästinensern 1948. Und die israelische Regierung droht nun mit einer zweiten Nakba. Wird sie nicht gestoppt, wird es zu einer Massenvertreibung kommen.
Wie geht es Ihnen persönlich in dieser Situation, wenn Sie an Ihr früheres Heimatland Israel und die Menschen dort denken?
Hever: Ich fühle mich von meinen jüdischen Freundinnen und Freunden verraten, die über den Holocaust und den moralischen Imperativ sprachen, dass es nie wieder einen Völkermord geben darf, und sich nun an der Entmenschlichung der Palästinenser und der Legitimierung des Tötens von Zivilisten beteiligen, die nirgendwohin fliehen können und nicht die Möglichkeit haben, sich zu ergeben. Ich mache mir gleichzeitig große Sorgen um meine Freunde und Familienangehörigen, die gegen das Massaker sind, sich aber aus Angst vor den Angriffen rechtsgerichteter Israelis nicht äußern.
Was fordern Sie als jüdischer Deutscher jetzt von der Bundesregierung?
Hever: Ehrlich gesagt erwarte ich von der deutschen Regierung gar nichts mehr. Ihre derzeitige Haltung offenbart, dass die Erinnerungskultur völlig versagt hat. In einem Moment der Krise, im Angesicht des Völkermords, schweigen deutsche Politiker. Während Jüdinnen und Juden aus aller Welt "Stoppt den Völkermord“ und "Nicht in unserem Namen“ rufen – in den USA, in Kanada und auch in Deutschland – verschließt die deutsche Regierung ihre Ohren und kümmert sich nur darum, mehr Waffen an Israel zu verkaufen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat auf der Zeremonie zur Pogromnacht sehr deutlich gemacht, dass diejenigen, die Deutschlands Position der Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson nicht akzeptieren, keine echten Deutschen sind. Wenn er mich nicht als Bürger dieses Staates anerkennt, warum sollte ich dann etwas von ihm erwarten?
Interview: Elisa Rheinheimer
Dr. Shir Hever wurde 1978 in Israel geboren und ist politischer Ökonom. Nach seinem Studium in Tel-Aviv promovierte er an der FU Berlin in Politikwissenschaft über die Privatisierung der israelischen Sicherheit. Er forscht zur Ökonomie der israelischen Besatzung. Hever ist Geschäftsführer des „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ (BIP) e.V. und Vorstandsmitglied beim Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Darüber hinaus engagiert er sich am „Alternative Information Center“, einer palästinensisch-israelischen Organisation in Jerusalem und Beit Sahour. Hever ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und zweier Bücher.