“Die Revolution wird aus dem Leiden geboren”
Unter dem Balkon eines hellgelben Hauses mit weißen Rundbögen steht Sabine Soueidy neben einem Haufen Schutt und Ziegelsteinen. „Es gibt einen Spruch: Beirut lag viele Male am Boden. Ich glaube, es ist inzwischen das achte Mal, aber wir bauen es selbst wieder auf“, sagt die 23-Jährige Studentin der Politikwissenschaften. Seit dem Morgen befreit sie mit anderen Freiwilligen das Haus von Schutt, Asche und Mauerresten. Es ist eines der ältesten Häuser in dem sonst als Ausgehviertel bekannten Stadtteil Mar Mikhael in Beirut. „Das Haus gehört einer alten Frau und ihren Enkeln, die es gerade erst renoviert hatten“, erzählt Soueidy.
Sie ist vor allem wütend auf die politische Elite im Libanon. „Wir sehen, dass die Regierung ausfällt und deshalb ist es an uns, ihre Aufgaben zu übernehmen. Wer sonst räumt Beirut auf?“, fragt sie erbost.
Am 4. August um 18.08 Uhr detonierten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der libanesischen Hauptstadt. Über 150 Menschen starben, 6.000 wurden verletzt, rund 250.000 verloren innerhalb von Sekunden ihr Zuhause. Noch immer suchen Angehörige und Rettungstrupps nach Vermissten.
Fensterscheiben sind zerbrochen und die Glasscherben liegen auf dem Boden; Stühle, Bilderrahmen und Blumentöpfe wurden durch die Druckwelle auf die Straße geschleudert. In den Häusern liegen Türen auf Betten, Fensterläden stapeln sich auf Brettern, Mauerresten, Kleidung und anderen Habseligkeiten. Betroffen sind ärmere Gegenden wie das armenische Viertel oder die Wohnhäuser in Karantina, direkt neben dem Hafen, aber auch gentrifizierte Gegenden wie Gemmayze, Aschrafie und Mar Mikhael, bekannt für alte Villen, hippe Bars und schicke Restaurants.
Die langgezogene Straße, die einst als Ausgehmeile durch Mar Mikhael führt, ist am Tag nach der Explosion gesperrt. Gerade einmal 600 Meter Luftlinie ist sie von dem Lagerhaus entfernt, in dem das Ammoniumnitrat detonierte. Glasscherben liegen auf der Straße verstreut, eine Frau räumt eine Kommode vom Gehweg zurück in ihr Bekleidungsgeschäft, in einem Jeansladen klopfen Mitarbeiter Staub aus den Hosen. An der Filiale einer Bank heben Arbeiter ganze Platten von zerbrochenen Fensterscheiben aus den Rahmen.
Etwas weiter die Straße entlang kehrt Tawfik Abu Khalil Glas auf einen Haufen und füllt es dann in einen Eimer. Der 78-Jährige beliefert Restaurants mit Klimaanlagen oder Küchengeräten. Die Druckwelle hat viele Maschinen in seinem Geschäft demoliert. Den Schaden schätzt er auf rund 47.000 Euro. „Ich repariere den Laden nur, um ihn zu verkaufen, und dann gehe ich“, sagt er. Abu Khalil wollte vor der Explosion nach Kanada fliegen, um dort seine fünf Kinder zu besuchen und anschließend in den Libanon zurückzukehren. Doch nach der Katastrophe hat er seine Pläne geändert: Er möchte das Land ganz verlassen. „Was soll ich hier noch?“, fragt er verärgert.
„Die Regierung hat die Katastrophe zu verantworten“
Bereits vor der Katastrophe litten die Menschen unter der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise. Tausende verloren ihre Jobs und das libanesische Pfund hat rund 80 Prozent seines Wertes verloren. Jetzt kursiert die Angst vor einer Lebensmittelknappheit. Der Libanon ist auf Importe von Weizen, Benzin und Medizin angewiesen, 60 Prozent der Importe kamen bisher über den Hafen von Beirut ins Land. Bei der Explosion wurden ein Weizen- sowie ein Medikamentenlager zerstört, nun klafft dort ein großer Krater mit einem Durchmesser von 200 Metern.
Dabei war die gefährliche Ladung nie dazu bestimmt, in Beirut zu liegen. Im Herbst 2013 fuhr das Schiff Rhosus mit der gefährlichen Fracht von Georgien nach Mosambik, wurde jedoch aufgrund von Mängeln in Beirut aufgehalten. Seit 2014 lagerte das Material zur Herstellung von Sprengstoff im Hafen Beiruts – ohne Sicherheitsvorkehrungen. Der einstige Kapitän des Schiffes, Boris Prokoshev, sagte, die libanesischen Behörden hätten „sehr wohl“ über die Gefahren der Ladung Bescheid gewusst. „Die Regierung im Libanon hat die Katastrophe zu verantworten“, sagte er der Nachrichtenagentur AP.
Saad Hariri, der von 2016 bis 2019 Ministerpräsident war, machte die Nachfolger-Regierung für die Explosion verantwortlich, die seit Januar 2020 im Amt war. Diese wiederum ließ 16 Mitarbeitende des Hafens inhaftieren. Zollbeamte machten mehrfach auf die Gefahren aufmerksam, aber warum niemand handelte, ist unklar. Womöglich, weil der Hafen und die Zollbehörde zu den korruptesten und für die politische Elite lukrativsten Institutionen gehören. Zahlreiche Gruppierungen, Politiker und die Hisbollah haben dort Einfluss.
Gegen diese Misswirtschaft gingen im Herbst vergangenen Jahres Hunderttausende auf die Straßen. Sie kritisierten ihre Politiker für Klientelismus und Korruption und forderten eine Revolution. Die Menschen hatten die alte Elite satt, die seit Ende des Bürgerkrieges vor 30 Jahren an der Macht festhält. Während Ministerpräsident Saad Hariri einem südafrikanischen Model umgerechnet etwa 13,5 Millionen Euro als Geschenk überwiesen haben soll, hatten die Libanesen mit Stromausfällen zu kämpfen und mussten teure Generatoren anschaffen, um ihre Versorgung mit Elektrizität zu sichern. Die nationale Elektrizitätsgesellschaft weist ein jährliches Defizit von fast 1,7 Milliarden Euro auf. Der Strom fiel bereits vor der Krise mindestens drei Stunden am Tag aus.
Und nun auch noch die verloren gegangenen Erinnerungen, die zerstörten Zuhause, Trauma und Trauer. Das entfacht den Zorn der Bürger erneut. Der (inzwischen zurückgetretene) Bildungsminister Tarek Majsub ging am Freitag (07.08.) mit einem Besen vor die Tür, aber die Menschen begrüßten ihn mit Rücktrittsforderungen.
Eine zutiefst verletzte Diva
Im zertrümmerten Stadtteil Gemmayze wurde die Sängerin Majida Roumi von vielen mit Tränen in den Augen empfangen. Zu einer Traube aus Helfern und Journalisten sagte die 64-Jährige, dass die Solidarität sie inspiriere und rezitierte: „Die Revolution wird aus dem Leiden geboren.“
Der Satz stammt aus ihrem bekannten Lied, „Beirut, sitt el dunia“ („Beirut, schönste Diva der Welt“). Am 1. August, drei Tage vor der Explosion, sang Roumi die Hymne an Beirut bei einer virtuellen Gedenkfeier der libanesischen Armee. Doch der Satz wurde zensiert, ihr Chor musste stattdessen lalala singen. Auf der Straße bekräftigte die Sängerin nochmal, der Satz könne nicht ausradiert werden, „weil er ausdrückt, was die Menschen empfinden.“
Am Freitagabend steht die 40-Jährige Dania Baidoun in orangefarbener Warnweste auf der Straße und singt das Lied Roumis aus vollem Halse. „Das ist nur passiert, weil diese Regierung und die Regierungen vor ihr korrupt sind”, sagt die 40-Jährige. „Sie lassen uns nicht in Frieden leben. Alle Politiker sollen wissen, dass sie gehen müssen. Sie werden den Libanon verlassen, wir aber werden bleiben.“ Baidoun ist Mutter von fünf Kindern. Sie hat ihre Kinder und Verwandte mitgebracht, sie alle sind aus dem südlichen Saida nach Beirut gereist, um zu helfen.
Die Solidarität ist groß in diesen Tagen in Beirut. Eine Frau kocht jeden Tag und bringt Essen zu einem der vielen Zelte, die Helfer aufgestellt haben. Freiwillige koordinieren Aufräumarbeiten, leisten psychologische Hilfe, suchen Vermisste. Architekten besichtigen die Häuser, fragen die Menschen nach ihren Bedürfnissen und machen sich dafür stark, dass die Bewohner bei einem Wideraufbau durch den Staat nicht vertrieben werden.
Die Menschen, die nun Schippen und Schaufeln in die Hand nehmen, um die Straßen und Wohnungen aufzuräumen, sind wütend auf die Regierung, deren Militär und Polizei untätig danebenstehen. „Wir müssen beides reparieren, unsere Häuser und das System“, hieß es in einer WhatsApp-Gruppe, die Hilfsmaßnahmen koordiniert. Viele gingen mit den Besen in der Hand am Wochenende auf den zentralen Märtyrerplatz in Beiruts Innenstadt, um zu protestieren.
Aus Holz und Stricken bastelten die Protestierenden Henkerschlingen und forderten den Rücktritt der Regierung sowie Gerechtigkeit für die Opfer der Explosion. Auch die Politikstudentin Soueidy räumt nicht nur auf. Sie will protestieren, bis der politische Wandel kommt. „Wir kämpfen, bis wir bekommen, was wir wollen.“
Julia Neumann
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