Der Totalausfall des Staates
Es war eine bemerkenswerte Szene, als der französische Präsident Emmanuel Macron bei seinem Kurzbesuch in Beirut durch die Menschenmassen im beschädigten Viertel Gemayze unweit des Hafens zog. Für seine Sicherheitsleute war es ein Albtraum, dass ihr Chef mitten in Beirut mit den Menschen auf Tuchfühlung ging. Es war aber auch der Albtraum seines ihn begleitenden Gastgebers, des libanesischen Präsidenten Michel Aoun. Denn die Bewohner des Viertels besannen sich auf den alten Slogan der Arabellion von 2011 und riefen: „Das Volk will den Sturz des Systems“.
Die Visite machte auch das Scheitern der libanesischen Politik nach der Explosion deutlich. Es war der Franzose, der mit den Menschen auf der Straße in Beirut sprach. „Ich sehe die Emotionen in euren Gesichtern, eure Traurigkeit und euren Schmerz. Deshalb bin ich gekommen“, erklärte er, während er Hände schüttelte, in einer Straße, in der zum Teil noch der Schutt herumlag und die Geschäfte noch keine neuen Fensterscheiben hatten.
Von den libanesischen Politikern hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt keiner auf der Straße blicken lassen. Und dafür hatten sie gute Gründe. Denn es ist das von ihnen geschaffene korrupte und inkompetente System, dass die Libanesen für das Explosions-Desaster verantwortlich machen.
Macron fordert Reformen
Macron erklärte mit einem Seitenhieb auf seinen Gastgeber, das libanesische Boot werde ohne ernsthafte politische und wirtschaftliche Reformen sinken. „Was wir hier brauchen, ist politische Veränderung. Die Explosion sollte der Beginn einer neuen Ära sein”, sagte er.
Im staatlich-libanesischen Vakuum versuchte Macron, als Retter zu punkten. Nicht alle empfingen den Franzosen freundlich. Aber fast alle buhten Aoun aus, den Präsidenten des eigenen Landes. Aoun hatte nichts zu bieten und seine Behörden werden für die fahrlässige Lagerung der Chemikalien verantwortlich gemacht, die zu der Katastrophe geführt hatte. Die einstige Kolonialmacht und Macron brachten wenigstens Hilfslieferungen und ein paar nette Worte mit. Dass der fremde Staatschef zu glänzen suchte, während der eigene nur mit den Zähnen knirschen konnte, zeigt wie groß das Misstrauen vieler Libanesen gegen die Institutionen des Landes ist.
Dass niemand mehr im Libanon dem Staat traut, geht auf eine jahrelange Erfahrung der Menschen zurück. Die politische Elite und die hohen Beamten haben einfach nur in ihre eigenen Taschen gewirtschaftet und damit das Land schon vor der Corona-Krise ausgeraubt und wirtschaftlich in die Knie gezwungen. Die Menschen vertrauen dem Staat auf keiner Ebene. Sie glauben beispielsweise nicht, dass er die Ursache der Explosion wirklich untersuchen lässt. So sind wenige Tage nach der Katastrophe die Rufe nach einer unabhängigen ausländischen Untersuchungskommission laut geworden. Auch das ist ein Ergebnis jahrelanger Vertuschung von staatlichen Fehlern. Jeder Libanese weiß, dass staatliche Stellen im Libanon selten zur Rechenschaft gezogen werden.
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Zivilgesellschaft kann den Staat nicht ersetzen
Deshalb fordern die Libanesen auch, dass internationale Hilfsgelder nicht über libanesische staatliche Stellen kanalisiert werden. Sie fürchten auch hier, wieder bestohlen zu werden. Derweil bräuchten sie gerade jetzt, angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, mehr denn je einen funktionierenden Staat. Genau das ist ihr Dilemma. Sie wissen, dass die Probleme, unter denen sie leiden, von der korrupten Elite und einem konfessionellen System aus sich bereichernden Familienclans nicht gelöst werden können, denn sie haben diese Probleme erst geschaffen. Nachbarschaftskomitees und zivilgesellschaftliche Organisationen, die gerade beim Aufräumen und bei der Versorgung helfen, können aber bei der Mammutaufgabe, Beirut wieder auf die Beine zu bringen, den Staat nicht ersetzen.
Der aber erweist sich einmal mehr als Totalausfall. Es gibt kein zentrales Krisenmanagement. Es gibt nicht einmal zentrale Vermisstenlisten. Es ist das totale Scheitern des Staates, wie die Libanesen es schon lange kennen. Bei einer derartigen Katastrophe ist das verhängnisvoll. In den Tagen nach der Explosion waren die Menschen auf sich selbst gestellt. Es war herzzerreißend, ihre Geschichten zu hören: Wie sie von Krankenhaus zu Krankenhaus zogen, um ihre Angehörigen zu finden oder am abgesperrten Tatort im Hafen warteten, in der Hoffnung doch durchgelassen zu werden, um unter den Trümmern selbst nach den Vermissten zu suchen.
Aber es werden ihnen auch dann noch Knüppel in den Weg gelegt, wenn sie sich selbst helfen wollen. Die Wohnungen von bis zu 300.000 Menschen wurden zerstört und beschädigt. Für sie gibt es bisher keinerlei staatliche Hilfen. Die Leute müssen auf ihre privaten Vermögen zurückgreifen, zumindest, um zunächst das Nötigste zu reparieren. Das Problem dabei: Die meisten Libanesen haben Dollar-Konten. Von diesen Konten dürfen sie nur eine begrenzte Summe abheben und bekommen ihr Geld nur zu einem schlechten Wechselkurs in libanesischer Lira ausgezahlt. Auf der Bank zahlen sie 3500 libanesische Lira für einen Dollar, auf dem Schwarzmarkt liegt der Wert mehr als doppelt so hoch. Sie müssen aber Handwerker und das Material für die Reparaturen zum Marktpreis bezahlen.
Karim El-Gawhary
© Qantara.de 2020
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