Lernen in Zeiten des Terrors
Bücher werden in Ägypten geschrieben, im Libanon gedruckt und im Irak gelesen, lautet ein altes Sprichwort im Nahen Osten. Die Iraker galten stets als gebildet und bildungshungrig. Die Bücherstraße in Bagdad war in der gesamten arabischen Welt ein Begriff. Wer "Mutanabbi" sagte, erntete strahlende Augen: in Kairo, Beirut und überall im Orient. Bagdad war nicht nur das Zentrum des Handels und des Amüsements, sondern auch der Kunst und Bildung.
Wer etwas auf sich hielt, ging am Freitag auf die Mutanabbi-Straße und kam mit einem Stapel gebrauchter oder neuer Bücher nach Hause. Im Kaffeehaus Schabander trafen sich Schriftsteller und Künstler, Filmemacher und Intellektuelle, um sich auszutauschen. Die Elite des Landes inmitten von Büchern. Das war das Bild, das der Irak in den 1970er und 80er Jahren bot.
Ausbildung im Ausland
"Bildung war ein hohes Gut", erinnert sich Riadh Kaddou. Er selbst hat Ingenieurwissenschaften studiert und in London ein Praktikum gemacht. Seine Eltern waren beide in den USA zur Ausbildung. Die Regierung zeigte sich damals großzügig. Millionen wurden für Stipendien im Ausland ausgegeben. Die Besten durften nach Großbritannien, Deutschland oder in die USA. Wer nicht so viele Punkte beim Baccalaureat – dem Abitur vergleichbaren Schulabschluss – hatte, konnte in die Sowjetunion, die osteuropäischen Staaten oder nach Ägypten.
Wenn die im Ausland Studierten zurückkamen, winkten Jobs in Führungspositionen, vom Staat gestellte Wohnungen oder Häuser und sonstige Privilegien. "Deshalb wollte jeder eine gute Ausbildung haben", begründet Kaddou die damalige Bildungsbeflissenheit seiner Landsleute. "Das steckt zwar noch drin", sagt der 51-Jährige, auf die Entwicklung der letzten Jahre angesprochen, "doch heute ist alles anders." Damals war ein irakischer Dinar drei Dollar wert. Heute bekommt man für einen Dollar 1200 Dinar. Das Land hat einen beispiellosen Absturz erlebt – in jeglicher Hinsicht.
Kein akademischer Austausch in der Isolation
Die Wucht der Zerstörung durch drei Kriege machte auch vor den Köpfen nicht Halt. Das Embargo nach dem zweiten, dem Kuwait-Krieg, in den 1990er Jahren spaltete das Land. Fortan nahmen die kurdischen Provinzen im Norden Iraks eine andere Entwicklung als der Rest des Landes. Die von der UNO verhängte Flugverbotszone bot den Kurden zwar Schutz vor weiteren Verfolgungen Saddams, blockierte aber jeglichen Fortschritt. Akademischer Austausch war praktisch unmöglich.
Die archaischen Familienstrukturen fanden sich schnell auch im Bildungswesen wieder. Wenn überhaupt, dann wurden zuerst die Jungs in die Schule geschickt. Die Mädchen mussten zuhause bleiben oder wurden ohne Schulabschluss frühzeitig aus dem Unterricht abgezogen. Tausende Kurden waren schon früher vor den Schergen des Diktators ins Ausland geflohen. In den Zeiten der Isolation flohen nochmals Abertausende.
Der Rest Iraks war ebenfalls isoliert, wenn auch auf eine andere Weise. Zwar fand immer noch Austausch auf akademischer und schulischer Ebene statt, doch verarmte das Land zusehends. Schul- und Universitätsgebäude verfielen, neue Technik wurde nicht angeschafft. Entweder war sie durch das Embargo nicht zugänglich oder man konnte sie schlicht nicht bezahlen. Als Saddam Hussein im April 2003 gestürzt wurde, stammte die Ausstattung der meisten Hochschulen vom Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Auslandsstipendien waren gestrichen.
Anschläge auf die Eliten
Der Invasion der Amerikaner und Briten folgte der Terror, was viele Schul- und Hochschulexperten als noch gravierender empfinden als alles andere davor. Noch nie hat der Irak einen derartigen "Brain drain" erlebt wie in der Post-Saddam-Ära. Eine buchstäbliche Jagd auf die Elite setzte ein. Professoren, Lehrer, Ärzte, Juristen, Politiker wurden erschossen, entführt oder bedroht. Wenn ein Lektor an der Universität aufgrund mangelnder Leistungen schlechte Zensuren verteilte, musste er damit rechnen, von seinen Studenten umgebracht zu werden.
Ein Professor der Mustansiriya-Universität ging nicht ohne Waffe aus seinem Haus. Vor den Universitätsgebäuden explodierten Sprengsätze. Mit der Explosion zweier Autobomben in der Mutanabbi am 5. März 2007 wurde die gesamte Straße zerstört und fast 100 Menschen getötet. Für viele war dies das Ende der Bildungsnation. Fast eine Million Menschen haben Bagdad in den letzten neun Jahren verlassen. Darunter sehr viele Bildungsträger. Seit zwei Jahren sind die Anschläge zwar drastisch zurückgegangen, doch die Geflohenen trauen der Situation nicht. Nur wenige sind bis jetzt zurückgekehrt.
Reformen im kurdischen Bildungswesen
In Irak-Kurdistan indes verlief die Entwicklung der letzten Jahre völlig anders. Vom Terror weitgehend verschont, haben viele Pädagogen und Hochschulprofessoren aus Bagdad Zuflucht in den drei autonomen Provinzen Erbil, Dohuk und Suleimanija gefunden. Sie unterrichten und dozieren jetzt dort. Hinzu kommen Tausende von Kurden, die inzwischen aus dem Exil zurückgekehrt sind und ihre Erfahrungen aus Europa oder den USA mitbringen.
Vor drei Jahren führte ein Rückkehrer aus Schweden, der Bildungsminister in der kurdischen Regionalregierung wurde, das schwedische Schulsystem ein. Ein erster Schritt zu einer umfassenden Bildungsreform, wie Mazen Rasul die Maßnahme nennt. "Jetzt müssen die Schüler schon in der zehnten und elften Klasse etwas für den Abschluss tun und nicht erst in der zwölften wie vorher." Das Baccalaureat selbst bringt fortan nur noch Zweidrittel der geforderten Punktezahl. Als Verwaltungsleiter der ersten deutschen Schule im Irak, die seit zwei Jahren in Erbil existiert, ist der 40-jährige Rasul, ein Rückkehrer aus Nürnberg, ebenfalls ein Beweis für die Erneuerung im kurdischen Bildungswesen.
Allerdings, so Schulleiter Jürgen Ender, werde nach wie vor Frontalunterricht an den staatlichen Schulen erteilt. "Der Lehrer redet, die Schüler schreiben mit und lernen auswendig." Bis fortgeschrittenere Unterrichtsmethoden wie Gruppenarbeit und die Erarbeitung thematischer Referate eingeführt werden, wie dies in Schweden und auch sonst in Europa üblich ist, könne noch einige Zeit vergehen. Momentan gehen die Schüler in Irak-Kurdistan auf die Straße, um gegen den neuen Leistungsdruck durch das schwedische System zu protestieren.
Birgit Svensson
© Deutsche Welle 2012
Birgit Svensson lebt und arbeitet seit dem Einmarsch der Amerikaner und Briten im Frühjahr 2003 im Irak. Als freie Korrespondentin berichtet sie für die überregionale Zeitungen und den Rundfunk.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de