Meinungsverschiedenheiten und Gemeinsamkeiten

Der Irak befindet sich in einem kritischen Zustand am Rande des Bürgerkrieges. Dennoch ist der verabschiedete Verfassungsentwurf ein Beleg für die Entwicklung einer politischen Diskurskultur, meint Raschid al-Khayyun.

Die irakische Nationalversammlung; Foto: AP
Das irakische Parlament hat eine ausgewiesen demokratische Verfassung verabschiedet, in der der Islam die offizielle Staatsreligion ist

​​Das diktatorische frühere Regime des Irak ließ keine politischen Parteien zu, die jedoch das Fundament einer jeden Nation darstellen. Nach dem Sturz des Regimes traten bislang allerdings nur Parteien in Erscheinung, die konfessionell und nationalistisch orientiert sind, wobei mit letzterer die Vertretung der irakischen Kurden gemeint ist.

Die Baath-Partei hat stets den alleinigen Anspruch auf den arabischen Nationalismus erhoben, so dass andere nationalistische Organisationen nach und nach von der Bildfläche verschwunden sind. Die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Sunniten, der Schiiten und der Kurden sind ohne die Kenntnis über diesen Hintergrund nur schwer nachzuvollziehen.

Die Sunniten leiden zudem an ihrer schwachen Position innerhalb des Prozesses der Verfassungsformulierung, die darauf zurückzuführen ist, dass sie sich daran nur in geringem Maße beteiligt haben. Das "Gremium der sunnitischen Geistlichen" etwa war lediglich mit fünfzehn Mitgliedern in dem Verfassungskonvent vertreten. In der Nationalversammlung können sich die Sunniten nicht ohne die Zustimmung von Koalitionspartnern durchsetzen. Ihre Position im irakischen Parlament ist nicht zuletzt deswegen zusätzlich geschwächt, weil sie die vorausgegangenen Wahlen boykottiert hatten.

Der Streitpunkt Föderalismus

Die Frage nach einem föderalen Irak ist eine der Streitfragen im Prozess des Verfassungsentwurfs. Über ein autonomes Kurdistan wurde angesichts der Bedingungen in der historischen Region und der Unterschiede in Bezug auf Sprache, Sitten und Traditionen eine weit reichende Übereinstimmung erzielt. Die Forderung nach einem föderalen System oder einer Autonomie ist eine der ältesten Forderungen der kurdischen Bewegung. Von den früheren Regierungen des Irak wurde sie zwar anerkannt, aber faktisch nicht umgesetzt.

Die schiitische Vorstellung von einem Föderalismus aber, die nach den Worten von Abdul Asis el-Hakim aus Nadjaf von der schiitischen Allianz ein Beharren der Schiiten auf Autonomie in den südirakischen Regionen darstellt, ist zwar nicht mit den kurdischen Forderungen nach Autonomie vergleichbar, trifft bei den Sunniten aber dennoch auf Widerspruch.

Ihr Argument ist, dass ein föderales System die Einheit des Iraks bedrohe und letztendlich zu einer Spaltung des Landes führe. Die Sunniten konnten die kurdische Autonomie jedoch nicht abwenden, weil diese de facto bereits seit 1991 existiert.

Die gerechte Aufteilung der Bodenschätze

Neben dem Streitpunkt des Föderalismus steht auch die Frage im Vordergrund, wie die Bodenschätze des Landes verteilt werden sollen. Nach Ansicht der Kurden und Schiiten soll die Verteilung Aufgabe sowohl der regionalen Behörden als auch der Zentralregierung sein. Im Gesetz soll verankert werden, dass sich die Verteilung nach der Bevölkerungsdichte der Regionen und Provinzen richtet.

Die Sunniten lehnen dies ab und befürworten, dass die Verwaltung der Bodenschätze Aufgabe der Zentralregierung bleibt. Die nicht-sunnitischen Regionen Kirkuk und Basra sind reich an Erdölvorkommen, ganz im Gegensatz zu dem mehrheitlich sunnitischen Westen des Irak.

Die nationale Identität des Irak

Die Frage nach der nationalen Identität des Irak gibt ebenso Anlass zu Meinungsverschiedenheiten unter den Sunniten, Schiiten und Kurden. Die Sunniten, die als Verfechter des arabischen Nationalismus gelten, plädierten für einen arabischen Staat, in dessen Verfassung verankert ist, dass der Irak oder die Iraker der arabischen Nation ("Umma") angehören.

Staatspräsident Dschalal Talabani gab jedoch zu bedenken, dass die Iraker verschiedenen ethnischen Gruppierungen angehören und deshalb nicht nur Araber, sondern auch Kurden, Turkmenen, Assyrer oder Chaldäer seien. Somit sei es widersprüchlich, alle Iraker als Angehörige der arabischen Umma zu bezeichnen. Daraufhin wurde festgelegt, dass die arabischen Iraker Angehörige der arabischen Umma sind und der Irak Teil der islamischen Welt und Mitglied der Arabischen Liga ist.

Die Baath-Partei

So wie man nach 1945 in Italien und Deutschland die faschistischen Parteien als zentrale Machtorgane der besiegten Diktaturen zerschlug, hat man sich auch im Irak entschieden, die Baath-Partei zu verbieten und aufzulösen. Die Sunniten stellten sich indessen gegen diese Entscheidung – auch wenn man sich bisher nur dazu durchringen konnte, lediglich den Namen der Partei aufgegeben. Die Verwicklung der Baath-Partei in die Verbrechen der Saddam-Hussein-Ära sind kompliziert: zu Zeiten des alten Regimes sind viele nur unter Druck oder aus anderen Gründen in die Baath-Partei eingetreten, ohne sich indessen mit der Ideologie identifiziert zu haben.

Themen, die weitere Diskussionen hervorrufen könnten, wurden auf die Zeit nach den kommenden Wahlen verschoben, allen voran die Kirkuk-Frage, bei der es um die reichen Ölvorkommen in der Kirkuk-Region geht – und um deren Verteilung. Im Verfassungsentwurf wurde festgelegt, dass diese Frage spätestens bis zum 31. Dezember 2007 gelöst werden soll. Der Paragraph 58 der nationalen Verfassung, die mit Anerkennung der neuen Verfassung aufgehoben wird, bleibt somit weiterhin bestehen.

Überraschend kam der Vorstoß der Sunniten, mit dem sie einen religiösen Staat und die Annerkennung des Islam als Hauptquelle der Rechtsordnung forderten. Die Gesamtheit der Sunniten ist sich über diese Forderung jedoch nicht einig, vielmehr scheint es sich nur um einen Vorstoß der radikalen Islamisten zu handeln. Durchaus kann diese Forderung auch als Versuch bewertet werden, eine Spaltung zwischen den schiitischen und kurdischen Parteien herbeizuführen und so einer kurdisch-schiitischen Koalition vorzugreifen, denn Schiiten und Kurden hatten sich in diesem Punkt nach langwierigen Verhandlungen so gut wie geeinigt.

Der Säkularismus gehörte schon immer zu den Eckpunkten des kurdischen Diskurses, wohingegen es auch von schiitischer Seite Bemühungen gab, die Anerkennung des Islam als einzige Quelle der Rechtsprechung zu erreichen.

Die Stellung der Frau

Für die Frauen wirkt sich die neue Verfassung nachteilig aus. Der Paragraph 39, der ihre Rechte regelt, hob de facto das Personenstandsgesetz auf, das seit 1959 in Kraft war. Der Paragraph 39 lässt den Irakern die Freiheit, ihre Personenstands-Angelegenheiten, wie z.B. Eheschließung, nach ihrer jeweiligen Glaubensrichtung zu regeln.

Sollte die Verfassung ebenso wie der Paragraph 39 in der Praxis angewendet werden, befürchten viele, dass dies ebenfalls zu einer Spaltung innerhalb der verschiedenen Richtungen führe. Dies hätte zur Folge, dass die einzelnen Parteien gestärkt und die Zentralregierung geschwächt würden. Das Personenstandsgesetz stammt noch aus der Monarchie in der Zeit von 1921 bis 1958. Jedoch zögerte die damalige Regierung, es tatsächlich umzusetzen, da sie sich dem heftigen Widerstand der schiitischen Geistlichen, insbesondere jener unter Führung des Ayatollah Mohsen el-Hakim in Nadschaf, ausgesetzt sah.

Nach der Revolution des 14. Juli 1958 wurden weitere Paragraphen in das Gesetz aufgenommen, das danach trotz des geistlichen Widerstandes erlassen wurde. Es war vor allem der Paragraph 74, der den Protest der Geistlichen erregte. Dieser Paragraph sprach Frauen und Männern bei Erbschaftsangelegenheiten die gleichen Rechte zu, was im Widerspruch zu einem Koranvers steht. Dieser Paragraph beschränkt die Anzahl der Ehefrauen und legt das Mindestalter der Frau bei Eheschließung fest, während sie nach schiitischer Auffassung bereits mit neun Jahren in die Ehe eintreten kann.

Eine islamische, eine demokratische Verfassung

Generell jedoch lassen die Paragraphen des Verfassungsentwurfs eine liberale Grundhaltung erkennen. Die Mehrheit der Paragraphen legt fest, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind und dass alle Iraker die gleichen Rechte und Pflichten haben. Sie garantieren die politische Freiheit, Parteien, Vereine und Gewerkschaften zu gründen und das Recht auf freie Religionsausübung, auf freie Meinungsäußerung und auf Freizügigkeit. Willkürliche Verhaftungen und Einflussnahme auf gegensätzliche Meinungen sind gesetzeswidrig.

Allerdings gibt es in dem Entwurf einen Paragraphen, der alle Gesetze für ungültig erklärt, die nicht mit dem Islam zu vereinbaren sind. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen Paragraphen, der die Demokratie in der Verfassung verankert und alle Gesetze für ungültig erklärt, die undemokratisch sind.

Die letzten Monate haben trotz der Unruhen und der nicht abreißenden Gewaltanschläge bewiesen, dass im Irak eine Diskussionskultur existiert. Die Wahlen, das Zustandekommen der Nationalversammlung sowie der Verfassungsentwurf hätten sich ohne diese Diskussionskultur nicht realisieren lassen.

Die Entwicklung einer politischen Streitkultur

An dieser Kultur beteiligt sich insbesondere die Mehrheit der religiösen Gruppen, welche versuchen, ihre Forderungen in den Prozess einzubringen. In vielen Punkten konnte aber auch ein Gleichgewicht mit den Anhängern des Laizismus erzielt werden, das zur Folge hat, dass Gesetze festgelegt werden sollen, die sowohl mit dem Islam als auch mit der Demokratie vereinbar sind.

Die miteinander verhandelnden Schiiten, Sunniten und Kurden haben angesichts der problematischen Forderungen nach einem föderalen Staat und der Auflösung der Baath-Partei das Höchstmaß an Übereinstimmung erreicht.

Wer angesichts der schweren Last der Vergangenheit und der aktuellen Dominanz der verschiedenen religiösen Gruppen die heutige Situation im Irak näher betrachtet, wird feststellen, dass der Verfassungsentwurf eine Übereinkunft darstellt, die der Gesellschaft viel versprechende Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen.

Raschid al-Khayyun

© Qantara.de 2005

Aus dem Arabischen von Helene Adjouri

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