Missverständnisse und Vorurteile
Im Verfassungsdisput zwischen den streitenden politischen, ethnischen und konfessionellen Kräften im Irak ist eine deutliche Spaltung zwischen der arabischen Mehrheit einerseits (Schiiten, Sunniten etc.) und den ethnischen Minderheiten (Kurden, Turkmenen) zu spüren.
Vor allem die kurdische Minderheit bekannte sich von Anfang an zum Föderalismus mit seinen sowohl geografischen als auch ethnischen Strukturen. Zwar bekannte sie sich nicht expressis verbis zur Sezession, ihr konnte jedoch die subsidiäre Kompetenzverteilung zwischen Bund und untergeordneten Einheiten in einem gemeinsamen Bundesstaat nicht weit genug gehen.
Die arabische Mehrheit dagegen konnte sich zunächst mit dem Föderalismus nicht richtig anfreunden. Ihre Priorität ist vielmehr, Iraks Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit im Rahmen starker hoheitsstaatlicher Strukturen wiederherzustellen.
Ihr Föderalismus-Verständnis basiert nicht selten auf einem Missverständnis bzw. auf dem traditionellen Vorurteil, dass dieses Modell mit Sezession, Separatismus und staatlicher Zerstückelung gleichzusetzen sei.
Kein zweiter Libanon
Dass der Föderalismus vor allem die strukturell und rechtlich klare Teilung hoheitlicher Kompetenzen (Steuerrecht, Polizei- und Justizwesen, Außen- und Sicherheitspolitik) zwischen dem Bund und den einzelnen Gliedteilen bedeute, wird oft von den Gegnern dieses Modells entweder verdrängt oder schlicht nicht verstanden.
Allerdings gibt es keine Anzeichen dafür, dass die maßgeblichen Kräfte im schiitischen Machtspektrum (erst recht auch unter den sunnitischen Eliten) trotz der Unterdrückung und Marginalisierung unter Saddam Hussein die Einführung eines dem Libanon ähnlichen konfessionellen Proporzsystems nacheifern.
Vielmehr scheinen beide Konfessionen innerhalb der arabischen Mehrheit eine föderale Struktur hinzunehmen, die territorial-administrativer und nicht konfessioneller Natur ist.
Zentralismus ist Leitidee in der arabischen Welt
In den intellektuellen Kreisen der arabischen Welt ist eine Einigung im politischen Diskurs eher die Ausnahme. Ein Konsens indessen ist bei der Ablehnung des Föderalismus leicht erreichbar.
Damit verbindet man in erster Linie spalterische Elemente und identifiziert Strukturen, die ethnischen oder konfessionellen Minderheiten angeblich eine privilegierte Stellung einräumen.
Die Ablehnung bundesstaatlicher Ordnung basiert zunächst auf der jahrhundertealten Tradition zentralistisch geprägter und handelnder Stämme. Zur Zeit des Osmanischen Reichs erlebte die arabische Welt außerdem ein Herrschaftsmischsystem mit sowohl totalitären, zentralistischen wie auch konföderativen Gebietsstrukturen.
Die panarabische Elite empfand die föderale Gliederung der arabischen Welt durch die Osmanen und später deren territoriale "Zerstückelung" durch die europäischen Kolonialmächte im Nachhinein als nationale Schmach.
So interpretierten der Gründer der Baath-Partei, Michel Aflaq, und der geistige Vater des arabischen Nationalismus, Sati Al-Husri, die beide unter dem Einfluss des modernen europäischen Nationaldenkens standen, die "Dekadenz" der arabischen Umma (Nation) als Folge der osmanischen Herrschaft und des europäischen Kolonialismus.
Parallele zwischen deutschen und arabischen Staaten
Nach der Erlangung der nationalen Unabhängigkeit von den europäischen Kolonial- und Mandatsmächten waren die Herrscher der arabischen Staaten darauf bedacht, alles zu verwerfen, was auch nur den Anschein einer Schwächung staatlicher oder nationaler Strukturen gehabt hätte.
Der Zentralismus schien daher die optimale und beinahe alternativlose Herrschaftsform zu sein auch, gerade weil dadurch Kontrollmechanismen gegenüber der eigenen Bevölkerung sowie in Bezug auf äußere Bedrohungsgefahren leichter und wirkungsvoller einsetzbar schienen.
Paradoxerweise standen die meisten arabischen Nationalisten, obgleich durchweg zentralistisch orientiert, dem deutschen Modell des föderativen Nationalismus (Fichte, Herder usw.) nahe, während sie die französische Richtung, die ja zentralistisch war, als zu rationalistisch verwarfen.
Al-Husri sah eine Parallele zwischen den "zerstückelten" deutschen Staaten im 19. und den arabischen Gebilden im 20.Jahrhundert. Seitdem denkt die politische Elite in der arabischen Welt etatistisch und somit im Sinne der Etablierung eines starken Staates, wobei dieser nach ihrem Verständnis nur zentralistisch sein kann.
Das Scheitern der Vereinigten Arabischen Republik
Nichtsdestotrotz gab es in der arabischen Welt Versuche, föderative Strukturen aufzubauen, wie z.B. in der "Vereinigten Arabischen Republik". Sie stellte einen Spagat zwischen totalitärem Zentralismus und einer nicht wirklich zu Ende gedachten bundesstaatlichen Ordnung dar.
Diese Vereinigung wurde 1958 zwischen Ägypten der Ära Nasser und dem unter starker innenpolitischer Zersplitterung und äußerer Instabilität leidenden Syrien ins Leben gerufen. Als Defizit erwies sich die Tatsache, dass beide Teilstaaten keine gemeinsamen Grenzen hatten.
Schon 1961 kam es zum Auseinanderbrechen der Union: Die Syrer fühlten sich von den Ägyptern stark bevormundet, die nach Gründung des neuen Staates zuallererst einen hohen Offizier und Mitglied des Revolutionsrats als "Statthalter" nach Damaskus entsandten und ihn mit einer uneingeschränkten Machtfülle ausstatteten.
Die Medien und die intellektuelle Klasse machten sich auch Jahre später kaum Gedanken darüber, dass die Bildung des neuen Staates ohne einen soliden föderativen Umbau ohnehin zum Scheitern verurteilt war.
Föderalismus auch für andere arabische Staaten?
Angesichts der laufenden Diskussion über die mögliche Einführung eines Föderalismus im Irak stellt sich die Frage, ob dieses Modell auch auf andere arabische Staaten anwendbar ist.
Tatsächlich wäre der Föderalismus für alle arabischen Staaten -unabhängig von der Größe ihrer Bevölkerung und ihrer geografischen Fläche - ein geeignetes politisches Modell und ein wichtiges Instrument, um überfällige administrative und gesellschaftspolitische Reformen in Angriff zu nehmen.
Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu diesem Beitrag an
kontakt@qantara.de Ein erfolgreiches Beispiel föderativer Staatsordnung in der arabischen Welt stellen heute zweifelsohne die Vereinigten Arabischen Emirate dar. Allerdings handelt es sich bei diesem Staatenbund fast souveräner Staaten um Emirate, Gliedstaaten also, die zentralistisch, bestenfalls nach dem Prinzip der Dezentralisierung und nicht nach bundesstaatlichen Grundsätzen regiert werden.
Allerdings müsste die Einführung bundesstaatlicher Strukturen mit der Durchsetzung konkreter und nachhaltiger Maßnahmen einhergehen, die über den bloßen Verfassungs- und Gesetzestext hinaus die Wahrung von Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit im Rahmen einer intakten Verfassungswirklichkeit garantieren könnten.
Das erfordert aber auch - trotz des auf Mehrheit basierenden notwendigen Konsenses - die Achtung und Gleichstellung von Minderheiten im religiösen, ethnischen und gesellschaftlichen Sinne.
In größeren Staaten, wie im Sudan und in Ägypten, aber auch in Syrien, Saudi-Arabien, im Jemen, in Marokko und Algerien könnte die Einführung bundesstaatlicher Strukturen den dramatischen Reformstau in den Bereichen Bildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen eindämmen helfen.
Aref Hajjaj
© Qantara.de 2005
Qantara.de
Diskussion über die irakische Verfassung
Deutscher Föderalismus Vorbild für den Irak?
Drei Mitglieder der irakischen Verfassungskommission, die bis Mitte August ihren Vorschlag unterbreiten muss, beteiligten sich in der Deutschen Welle an einer Diskussion über strittige Fragen bezüglich der zukünftigen Verfassung wie Probleme des Föderalismus, die Rolle der Scharia oder der Status der Frau im neuen Irak.
Der irakische Verfassungsentwurf
Meinungsverschiedenheiten und Gemeinsamkeiten
Der Irak befindet sich in einem kritischen Zustand am Rande des Bürgerkrieges. Dennoch ist der verabschiedete Verfassungsentwurf ein Beleg für die Entwicklung einer politischen Diskurskultur, meint Raschid al-Khayyun.
Kirkuk – Stadt des Anstosses im Irak
Schwierige Verständigung zwischen den Volksgruppen
Kurden, Turkmenen und Araber reklamieren seit dem Fall Saddam Husseins die irakische Stadt Kirkuk für sich. Wie die gegensätzlichen Ansprüche aufgelöst werden sollen, ist noch völlig offen. Volker Perthes besuchte das Zentrum für Dialog und soziale Entwicklung in Kirkuk.