Am Touchpad der Revolution
Der Mythos ist nicht totzukriegen: Dass die Ägypter ohne Facebook niemals ihren Präsidenten Mubarak gestürzt hätten. Dass der türkische Ministerpräsident Erdogan am Bosporus seine Ruhe hätte, wenn es Twitter nicht gäbe. Sobald von den Protesten in der islamischen Welt die Rede ist, werden Onlinemedien zu einer Art Wunderwaffe gegen autoritäre Herrscher hochstilisiert. Die Demonstrierenden stellt man sich als eine Netzwerk-Armada vor, eine Hand an der Gasmaske, die andere am Touchpad. Als ließe sich eine Revolution in 140 Zeichen machen.
Vor diesem Hintergrund ist es so erfreulich wie ernüchternd, wenn jemand wie der Medienwissenschaftler Marcus Michaelsen den ganzen medialen Hokuspokus genauer unter die Lupe nimmt. Michaelsen hat an der Universität Erfurt eine Doktorarbeit zur Rolle des Internets im Iran geschrieben – dem Land, dem man eine revolutionäre Vorreiterrolle nachsagt.
Der Iran hatte den Ausbruch des Arabischen Frühlings vorweggenommen, und zwar nicht erst durch die Proteste der "Grünen Bewegung" im Sommer 2009, als die Menschen nach der manipulierten Präsidentschaftswahl auf die Straße gingen.
Ein historischer "Prolog des Arabischen Frühlings"
Die Protestkultur im Iran ist wesentlich älter. Sie hat ihre Wurzeln in der Revolution von 1979, als sich das Volk gegen die Monarchie und den autoritären Modernisierungsstaat wandte, ähnlich wie gerade in der Türkei. Ohne diesen historischen "Prolog des Arabischen Frühlings" sind für Michaelsen die derzeitigen Unruhen in der arabischen Welt nicht zu verstehen.
Was genau Onlinemedien mit dem politischen Wandel in islamischen Ländern zu tun haben und von welchen freiheitlichen Illusionen wir uns verabschieden dürfen, zeigt Michaelsen nun in seinem gerade erschienen Buch mit dem optimistischen Titel "Wir sind die Medien. Internet und politischer Wandel in Iran".
Der Ehrlichkeit halber sei gesagt, dass es sich bei der Lektüre keineswegs um einen Facebook-Krimi handelt. Michaelsen hat im Iran gelebt und geforscht, seine zahlreichen Recherchen und Interviews mit Vertretern der Opposition sind gründlich und aufschlussreich. Er hat die Entwicklung der Medienlandschaft im Iran über Jahre hinweg beobachtet, kennt Politik und Geschichte des Landes. Er kennt sie so gut, dass er sich oft nicht entscheiden kann, was für seine Argumentation nun eigentlich wichtig ist und was nicht.
So packt er viele Informationen hinein: 100 Seiten politische Theorie, die man im Grunde überblättern kann, weil er Ansätze der Transformationsforschung referiert, aber nicht einordnet; weitere 100 Seiten Überblick über die iranische Gesellschaft und ihre traditionelle Mediennutzung: Presse, Radio, Fernsehen.
Das Wort "Facebook" erscheint erstmals auf Seite 297. Tatsächlich wird es dort spannend, weil es um konkrete Internetseiten und Reformerinnen geht: um die Frauenbewegung und um jene "Grüne Bewegung", auf die bei Michaelsen letztlich alles zuläuft.
Reformen im Lichte der völligen Überwachung
Trotz der zähen Lektüre liegt hier jedoch eine wichtige Analyse vor. Wer sich für das politische Potential digitaler Medien interessiert, wer jenseits der romantischen Verklärung einer Touchpad-Demokratie die Schwierigkeiten einer Reform in autoritäten Staaten nachvollziehen will, darf dankbar sein für eine derart fundierte Untersuchung. Denn Michaelsen betrachtet die Reformen im Lichte – oder eher der Dunkelheit – eines totalen Überwachungsapparats.
Die Kernfrage, die Michaelsen stellt, ist nicht nur für die abgeflaute "Grüne Bewegung" relevant, sondern lässt sich auch auf die anhaltenden politischen Konflikte in den Ländern des Arabischen Frühlings übertragen. "Belegt der Fall Iran die begrenzte politische Schlagkraft des Internets?"
Immerhin gewann das iranische Regime 2009 innerhalb weniger Monate die Kontrolle über die Protestbewegung und zerschlug sie. Oppositionelle wurden verhaftet oder flohen ins Ausland. Zu einem Sturz des damaligen Präsidenten Ahmadinedschad kam es nicht.
Obwohl Kommunikationsnetzwerke im Internet "die Formierung spontanen Widerstands gegen autoritäre Politik erleichtern können", schreibt Michaelsen, "scheinen ihre Effekte im Prozess einer tatsächlichen Neuaushandlung der Machtverhältnisse eher begrenzt."
Für Michaelsen liegt das jedoch nicht allein an der Unfähigkeit der Opposition, sich virtuell auf eine Programmatik zu einigen, sondern vor allem an der Repression, die sie umgibt.
Ein absurdes Katz- und Mausspiel im Netz
Der Iran überwacht wie kaum ein anderes Land auf der Welt die Aktivitäten seiner Bürger im Internet. Staatliche Filter verlangsamen das Internet oder legen kritische Onlineportale gänzlich lahm. Viele Seiten werden daher im Ausland betrieben, büßen so allerdings an Reichweite ein.
Da Blogger – häufig Journalisten und Intellektuelle – ihrerseits die Filter zu umgehen suchen, entsteht ein absurdes Katz- und Mausspiel im Netz. Oppositionelle weichen dennoch ins Internet aus, weil die Kontrolle der "großen Medien", der TV- und Radiosender und der Presse, noch weitaus umfassender sind. Ohne die Zensur der traditionellen Meinungsmedien ist die Internetbewegung für Michaelsen nicht zu verstehen.
Obwohl die Reformer im Internet durchaus unfrei sind, haben sie eine politische Kultur etabliert, die mit der deutschen Blogosphäre, die sich oft um Befindlichkeiten dreht, nicht zu vergleichen ist. Wenn Michaelsen die Netzdebatte über eine Kommunalwahl schildert, wenn er Blogeinträge über Spitzenkandidaten zitiert, wird der Ernst deutlich, mit dem Politik hier betrieben wird.
Die halblegalen Nachrichtenseiten, die er beschreibt, zeigen, wie essentiell Onlinekommunikation in Iran ist, was sie für Informationen und Meinungsaustausch leisten.
Es ist ein mühsamer Prozess, ein Spießrutenlaufen vorbei an Institutionen und angeführt von Oppositionspolitikern, die die staatliche Kontolle teils selbst mit aufgebaut haben. Klar wird nicht zuletzt: Mit dem Bild der Studentin, die per Twitter eine Revolution anzettelt, hat all das nichts zu tun.
Sarah Schaschek
© Qantara.de 2013
Marcus Michaelsen: "Wir sind die Medien – Internet und politischer Wandel in Iran", Transcript-Verlag, Bielefeld 2013, 352 Seiten
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de