Abwarten heißt überleben
Ganze Städte und Landstriche Syriens liegen in Trümmern. Laut offiziellen Angaben wurden seit März 2011 allein im Zusammenhang mit Kampfhandlungen und durch Folter mindestens 140.000 Syrer getötet. Über sieben Millionen Syrerinnen und Syrer sind im In- und Ausland auf der Flucht. Elf Millionen Menschen in Syrien und den angrenzenden Ländern werden nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis Ende 2014 humanitäre Hilfe benötigen – das ist die Hälfte der ehemaligen Bevölkerung des Landes.
Angesichts dieser Krise sollte man davon ausgehen, dass die Weltgemeinschaft der syrischen Zivilbevölkerung mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe eilt, um das Gemetzel zu beenden. Nicht nur wegen der Gefahren für die regionale Sicherheit, sondern auch wegen ihrer Schutzverantwortung ("Responsibility to Protect"). Dieses völkerrechtliche Konzept beinhaltet, dass die Vereinten Nationen die Souveränität eines Mitgliedsstaates einschränken können, wenn dessen Regierung die eigenen Bürger massakrieren lässt – zum Beispiel mit Giftgas.
Doch weit gefehlt: Nach wie vor blockiert Russland Entscheidungen im UN-Sicherheitsrat und warnt vor einer "Einmischung" in den syrischen Konflikt. Das klingt heuchlerisch, denn Russland mischt sich permanent ein, mit umfangreichen Waffenlieferungen an das syrische Regime, das die Lufthoheit innehat und das bei vorgeblichen Angriffen gegen Rebellengebiete die Zivilbevölkerung unterschiedslos mit bombardiert. Doch Konsequenzen blieben bis heute aus. "Obwohl die meisten Opfer durch Angriffe von Truppen des Regimes sterben, gibt es bisher kaum Diskussionen über Schutzverantwortung", stellt denn auch Bente Scheller in der Einleitung zu ihrem Buch fest.
Strategie-Mix aus Repression und Zerstörung
Der Konflikt in Syrien geht in sein viertes Jahr. Die syrische Armee scheint geschwächt, doch mit Unterstützung von Hizbollah-Kämpfern aus dem Libanon, Revolutionswächtern aus dem Iran und neu aufgebauten zivilen Bürgerwehren mordet und foltert das Regime quasi achselzuckend weiter und redet öffentlich von "Terrorbekämpfung". Das klingt nach Realitätsverlust und politischem Wahnsinn.
Aber Tatsache ist: Mit seinem Strategie-Mix aus brutaler Repression, großflächiger Zerstörung und Aussitzen des Konflikts sind die Assads bzw. ihre sich wandelnden Machtapparate in den vergangenen vier Jahrzenten immer durchgekommen. Ob die Niederschlagung des Muslimbrüder-Aufstandes in Hama 1982 mit tausenden Toten, ob die zahlreichen Massaker in syrischen Gefängnissen oder die unsäglichen Menschenrechtsverletzungen und blutigen Attentate während der zwanzigjährigen Besetzung des Libanons – die Assads und ihre Entourage haben bislang jede Krise überstanden.
Wie kann das sein? In Bente Schellers Buch entfalten sich drei Erklärungsstränge, die teilweise eng miteinander verwoben sind. Syriens vielschichtige Außenpolitik, der politische Pragmatismus des Assad-Regimes und die Tendenz des syrischen Machtapparates, Konflikte auszusitzen, statt sie zu managen.
Bente Scheller beschreibt im ersten Kapitel detailliert das syrische Machtgefüge und die Vorgeschichte der Revolution im März 2011. Die Assads, die als Alawiten einer religiösen Minderheit angehören, unterdrückten unter anderem mit Hilfe der nach sozialistischem Vorbild strukturierten Baath-Einheitspartei nach innen jeglichen Dissens und bauten seit ihrem Machtantritt 1970 systematisch Allianzen im benachbarten Ausland auf, um ihre eher schwache Hausmacht zu stabilisieren.
Ohne Vision, ohne Strategie
Macht- und Überlebensinteressen des Regimes waren dabei wichtiger als ideologische Bedenken: so hatte das säkulare Baath-Regime nach der Islamischen Revolution im Iran kein Problem mit einer engen Bindung an das klerikale Regime, obwohl dieses einen Gottesstaat errichten wollte.
Auch die unter deutschen Linken verbreitete Vorstellung, Syrien sei ein antiimperialistisches Bollwerk gegen die USA, straften die Assads Lügen. Im Zuge des sogenannten "Krieges gegen den Terror" übernahm Syrien von der CIA die Aufgabe, Terrorverdächtige gefangenzuhalten und zu foltern, um Informationen aus ihnen herauszupressen. Der Erzfeind Israel wurde zwar mit Hasspropaganda überschüttet, doch mit konkreten Attacken hielt Damaskus sich zurück. Diese Aufgabe überließ man gern der verbündeten Hisbollah-Miliz im Libanon. Ansonsten lautete die Devise: Abwarten.
Darin besteht auch aktuell die Taktik: Das Assad-Regime scheint sich damit abgefunden zu haben, dass es die Kontrolle über Teile des syrischen Territoriums verloren hat. Bente Scheller erwartet von Damaskus keinerlei Impulse für eine politische Lösung des Konfliktes – im Gegenteil: "Im Jahr 2013 steht die Regierung eines der wichtigsten Länder im Nahen Osten mit dem Rücken zur Wand, ohne Vision, ohne Strategie, und es scheint bereit zu sein, lieber jeden und alles mit ins Verderben zu reißen als irgendeine Art von Übergangslösung zu managen."
Baschar al-Assad im Fokus
Das sind verheerende Perspektiven, vor allem für die syrische Zivilbevölkerung. Was sollte, was kann die internationale Gemeinschaft tun? Bente Scheller plädiert für ein stärkeres militärisches Engagement und eine offene Debatte über die Konsequenzen: "Ohne eine Intervention wird die Situation sich weiter verschlimmern. (…) Auch wenn das unpopulär und sehr umstritten klingen mag, das Thema Intervention, ob indirekt durch Waffenlieferungen oder direkt, mit Bodentruppen, muss diskutiert werden".
Bente Scheller analysiert in ihrem Buch sehr detailliert und faktenreich die Entstehung des syrischen Konflikts. Sie beschreibt die wichtigsten Achsen und Akteure der syrischen Außenpolitik: die USA, Israel-Palästina, die Türkei, der Iran, der Irak und Russland bzw. die ehemalige Sowjetunion. Das Buch beantwortet nicht alle Fragen: So verspricht Scheller zwar, dass sie keine personalisierte Darstellung des syrischen Systems liefern will, doch auch ihr Buch fokussiert stark auf die Person Baschar al-Assad, unter anderem durch zahlreiche Zitate aus Interviews.
Die Rolle der Golfstaaten im Syrien-Konflikt bleibt etwas blass – Scheller argumentiert hier mit der vergleichsweise schwachen Verfügbarkeit belastbarer Daten. Das schmälert aber nicht die Bedeutung von "The Wisdom of Syria’s Waiting Game". Das Buch ist ein Muss für alle Syrien-Interessierten.
Martina Sabra
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Bente Scheller: “The Wisdom of Syria’s Waiting Game. Syrian Foreign Policy under the Assads”, Hurst & Company, London 2013, 268 Seiten