Ein Psychogramm der arabischen Seele
Wenn im Titel eines Buches zum Islam vom Verlag Droemer einmal nicht das exotisierende "Allah" vorkommt, freut man sich schon beinahe. Dennoch macht man sich angesichts des Verlages mit seinen einschlägigen islamkritischen Werken und des Untertitels "Ein Psychogramm der arabischen Seele" wieder einmal Sorgen, hier würden Verallgemeinerungen über den Islam und die Araber verbraten. Aber Burkhard Hofmann ist kein Thilo Sarrazin, und ihm ist ein kluges Buch gelungen – auch wenn Pegidisten und AfD-Mitläufer darin oberflächliche Bestätigung suchen und finden werden.
Psychologie ist nicht alles, und sie kann nicht alles erklären. Aber ganz ohne Psychologie ist der Zustand der Menschheit auch nicht erklärbar. Deshalb hat dieses Buch seine Berechtigung, gerade auch weil die Psychotherapie in der arabischen Welt eine Randexistenz führt und entsprechende arabische Werke selten sind.
Burkhard Hofmann hat über mehrere Jahre vermittels des Englischen Patientinnen und Patienten aus der Golfregion behandelt, teils in Hamburg, teils in Manama. Seine Fallstudien sind gründlich, und er besitzt zudem eine für einen "Laien" überraschend gute Kenntnis mancher Koranstellen oder Hadithe, wenngleich er gerade hier auch zuweilen irrt.
Das vermeintliche Musikverbot des Korans zum Beispiel ist wohl eher eines, dessen Ursprünge in der wahhabitischen Erziehung manch seiner Klienten gesucht werden müssen. Und es bleibt ungeklärt, woher ein vom Autor zitierter "nichtkoranischer Steinigungsvers" (275) stammt, oder woraus er schließt, der Prophet sei "schon vor seinen Offenbarungserfahrungen richterlich, also politisch tätig" gewesen (283).
Überzeugender fallen seine Analysen der häufigen Lebensangst seiner arabischen Kranken aus, und Hofmann hütet sich davor, diese allein auf den muslimischen Glauben zurückzuführen. Er führt stattdessen auch überkommene, schwer aufzubrechende Familienstrukturen als Grund an. Es fehlt dem Autor dabei nicht an Empathie für seine Patientinnen und Patienten.
Das "Nanny-Syndrom"
Ein am reichen Golf weitverbreitetes Phänomen ist zum Beispiel das vom Autor sogenannte "Nanny-Syndrom": Die Eltern geben die Sorge für ihre Kleinkinder an Hausmädchen ab, die ihrerseits selbst unter der Trennung von ihren in der Heimat zurückgelassenen Kindern leiden und somit keine emotionale Nähe bieten können. So entstehen durch wirtschaftliche Abhängigkeit "lebensbestimmende Verlassenheitsgefühle bei Müttern wie auch bei deren Kindern zu beiden Seiten des Indischen Ozeans" (47). Das so entstehende "schwache Selbst versagt bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit" im Erwachsenenalter.
Doch auch da, wo die Mutter verfügbar ist, ist den Kindern oft wiederum eine engere Beziehung zum Vater versagt, sofern dieser selten zu Hause ist oder auch eine Zweit-Ehe eingeht – ein weiteres häufiges Trauma, das Hofmann bei seinen Kranken feststellt.
Und nicht selten, so Hofmann, sieht der arabische Vater es als seine einzige Erziehungspflicht, den Sohn in den Glauben einzuführen und ihn damit "auf das Bild des fernen Gottes" zu verweisen, nur um sich anschließend emotional wieder vom Kind abzuwenden. So bleibt auch die Nähe zum Vater eine unerfüllte Sehnsucht, und das religiöse Tabu, gegen die Eltern aufzubegehren, sorgt dafür, dass die Betroffenen die Schuld bei sich selbst suchen oder andere hassen, die diese Zuneigung erfahren haben.
Der Glaube als Stütze und Last
Nicht zuletzt führt die Verlassenheit durch die andererseits omnipräsenten Eltern zu einer religiösen "Überstrukturierung", also der Flucht in die möglichst penible Erfüllung religiöser Pflichten. Doch erklärt der Autor Religiosität an sich nicht zur Krankheit; er schildert dagegen, wie der Glaube ebenso tröstend wie lähmend, Stütze wie Last sein kann.
Hofmann konstatiert eine Grundangst bei seinen Patienten, die durch emotionale Vereinsamung ebenso begründet ist wie durch religiös begründete Höllenfurcht, und stellt fest, dass diese im Verbund mit einer empfundenen Unzulässigkeit des Anzweifelns überkommener Gewissheiten oft zu einer ausgleichenden Selbstüberhöhung führt, die auch in der Annahme wurzelt, man sei als gläubiger Muslim Gott näher als andere Menschen.
Und je mehr Selbstzweifel sich in die Seele schleichen, desto eher ist man wiederum geneigt, dies durch religiöse Übersteigerung zu kompensieren. "Entsagung, Weltabgewandtheit, Nichtkontakt, Unfreude werden zur Eintrittskarte ins Paradies. Es entsteht eine "traurige Spirale in die Depressivität und … in die Angst" (81), beziehungsweise: "Wenn man schon nichts gilt in der Welt, möchte man wenigstens im Besitz der höheren Wahrheit sein." (85)
"Die gewalttätig vorgetragene Glaubensgewissheit ist in Wirklichkeit Ausdruck eines Glaubensverlustes, der nicht eingestanden werden darf oder wieder unbewusst gemacht werden muss" (127), schreibt Hofmann, und: "Nichtglauben und Zweifel [gelten als] ein persönliches Versagen" (130). Es ist wohl nicht unzulässig, die Verfasstheit einer ganzen Region auch aus solchen individuellen Komplexen herzuleiten, was der Autor aber nur in Ansätzen tut. Und das muss er auch nicht.
Die Schwächen des Buches liegen eher in einzelnen Passagen, etwa wenn der Autor etwas kryptisch von der arabischen Dichtkunst sagt, hier sei "der oft hinderliche, schwierige Transfer des Hocharabischen in realistische, alltagssprachliche Dialoge nicht relevant, und deshalb blüht diese Kunstform bis heute" (71), oder wenn er die Trinitätslehre als "christlich-jüdische Tradition" (271) im Gegensatz zum Islam bezeichnet.
Auch wäre es seinem Buch zugutegekommen, hätte er die Thesen von Thomas Bauer zur "Ambiguität" des Islam oder George Tarabishis psychologische Deutungen des Zustandes der arabischen Welt gekannt. Zudem ist Hofmanns Wortwahl zuweilen seltsam altmodisch, etwa wenn er von "Vielweiberei" spricht und überhaupt für Frauen zuweilen die Vokabel "Weib" einstreut.
Und nicht zuletzt verallgemeinert Hofmann eben doch zuweilen, wenn er Phänomene am Golf für in ganz "Arabien" gültig hält und der arabischen Welt insgesamt eine Zivilgesellschaft abspricht (102), oder wenn er ohne weitere Definition den Begriff eines "arabischen Islam" (266) einführt und trotz aller Empathie und Differenzierung von "dem Araber" spricht ("Mit der vita passiva hat der Araber viel weniger Probleme als wir"; 267).
Anlass zu westlicher Selbstreflexion
Und doch bietet das Buch Anlass auch zu westlicher Selbstreflexion, etwa wenn Hofmann kritisch von einem "Überlegenheitsgefühl beider Seiten" (der westlichen wie der muslimischen) spricht (268). Hofmann arbeitet zwar oft Antagonismen zwischen Westen und islamischer Welt heraus, ja er warnt am Ende des Buches auch vor zu euphorischen Erwartungen bezüglich der Integration arabischer Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft.
Dennoch tut er etwas sehr Bedeutsames: Er wendet sich den Menschen, über die er schreibt, mit Offenheit und Interesse zu.
Was der Autor nicht ausspricht, sich einem beim Lesen aber aufdrängt, ist die Forderung: Die Psychologie hat in der arabischen Welt einen viel zu geringen Stellenwert. Man müsste sie dort dringend fördern und einfordern.
Günther Orth
© Qantara.de 2018
Burkhard Hofmann: "Und Gott schuf die Angst: Ein Psychogramm der arabischen Seele", 288 Seiten, Droemer Verlag, Oktober 2018, ISBN-10: 9783426277560