Afghanen fürchten verspätete Corona-Welle
Hunderte Afghanen haben sich vor einer privaten Klinik im Stadtzentrum von Kabul versammelt und drängeln sich vor dem Eingang. Viele von ihnen sind bereits an Covid-19 erkrankt, einige haben einen Venenzugang im Arm. Sie alle wollen eins: ein von einem selbsternannten Heiler versprochenes Wundermittel gegen Corona. Jener ist aber nicht zur Stelle, auch sei das Mittel jetzt und hier nicht erhältlich, wie ein Mann, anscheinend Mitarbeiter des Heilers, der zunehmend aufgebrachten Menge zu erklären versucht. Szenen aus einem Video, das seit Anfang der Woche in den afghanischen sozialen Medien kursiert.
Angeblich kann das selbstgebraute Mittel des Heilers Infizierte innerhalb von drei Stunden heilen. Einer der Männer in dem Video ist dafür aus der ostafghanischen Stadt Dschalalabad nach Kabul gereist. "Ich habe meinen kranken Verwandten auf einer Trage zu Fuß hierhergeholt und ihm das Mittel gegeben. Dann konnte er selber laufen. Die Regierung kann uns nicht helfen, das ist der einzige Weg", sagt er aufgeregt. In Dschalalabad habe sich bereits fast die ganze Stadt infiziert, so der junge Mann.
Zweifel an offiziellen Zahlen
Auch das afghanische Gesundheitsministerium hat zu dem angeblichen Mittel Stellung genommen und von seiner Verwendung "abgeraten".
Laut Gesundheitsministerium waren Stand 3. Juni 17.267 Menschen in Afghanistan infiziert. Von Dienstag (2.6.2020) auf Mittwoch habe sich die Zahl der Infizierten um 758 erhöht. Bis jetzt seien 294 Menschen an Covid-19 gestorben. Experten gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl weit höher ist.
So auch Nadia Nashir, Vorsitzende des afghanischen Frauenvereins. Sie berichtet von einer dramatischen Lage in ihrem Verein. Er ist derzeit nur in drei Provinzen mit rund 140 Mitarbeiterinnen aktiv. "Sie und ihre Familien sind fast alle erkrankt, und das nimmt in den letzten Tagen zu", berichtet Nadia Nashir gegenüber der DW. "Viele zeigen schwere Symptome. Einige Familienmitglieder, auch jüngere, sind bereits daran gestorben."
Zum Virus kommt Hunger
Laut Nashir sind die Binnenflüchtlinge in Afghanistan besonders stark bedroht. Viele leben in Lagern vor den Toren der Großstädte auf engstem Raum unter schlechten hygienischen Bedingungen und ohne Zugang zum Gesundheitssystem.
Auch in Afghanistan leidet vor allem die ärmere Bevölkerung besonders stark an den Folgen der Corona-Pandemie. Laut einer Gallup-Studie aus dem Jahr 2019 haben über die Hälfte der Afghanen weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl und Öl sind auf den afghanischen Märkten von Mitte März bis Ende April zwischen acht und 23 Prozent gestiegen, wie das Welternährungsprogramm ermittelt hat.
Nadia Nashir befürchtet sogar, dass viele der besonders Armen und Schwachen an Hunger sterben könnten. Zwar hätten Vereine wie der ihre Hilfspakete in Flüchtlingscamps liefern können, das sei jedoch nur in einem begrenzten Umfang möglich.
Gesundheitswesen überfordert
Trotz Zusicherungen und finanzieller Unterstützung von Seiten der internationalen Gemeinschaft gibt es im ganzen Land nicht genug Testsätze, es fehlt an Beatmungsgeräten und auch an ausgebildetem Personal. Bis Ende April sind in Afghanistan nur rund 6600 Tests auf eine Infektion mit dem neuen Corona-Virus durchgeführt worden. Mängel im Gesundheitswesen wie Unterfinanzierung erschweren den Kampf gegen Covid-19 ebenfalls.
In einem eigens für die Bekämpfung der Epidemie errichteten Krankenhaus im westlichen Herat hatten die dort tätigen Ärzte für einige Stunden ihre Arbeit aus Protest niedergelegt. Der Grund: Sie warten seit Monaten auf ihre Bezahlung. Schließlich hat die Regierung in Kabul kein Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit der Krise schaffen können. Der Ende März in Kabul und dann in den meisten Provinzen ebenfalls angeordnete Lockdown wird zum großen Teil ignoriert.
Vor wenigen Wochen steckte sich der afghanische Gesundheitsminister Ferozuddin Feroz an. Mittlerweile wurde er aus seinem Amt entlassen und durch einen neuen Minister ersetzt. In Kundus sind der lokale Polizeichef und ein Distrikt-Chef an Covid-19 erkrankt und verstorben.
"Es gibt kaum Tests und diese müssen für ein Ergebnis erst in die Hauptstadt geschickt werden", beklagt Amruddin Wali, Provinzratsmitglied in Kundus. "Das führt dazu, dass viele gar nicht wissen, ob sie sich infiziert haben oder nicht und dass sich die Krankheit deshalb umso schneller ausbreiten kann. Wenn die Regierung nicht schnell handelt, werden wir hier bald ähnliche Zahlen wie im Iran haben." Dort wurden bislang rund 160.000 Infektionen und 8000 Todesfälle gezählt.
Waslat Hasrat-Nazimi
© Deutsche Welle 2020
Mitarbeit: Parwaneh Alizadah