Revolutionäre Hilfe von unten

Ein Mann schöpft Essen aus einem großen Topf. Im Hintergrund stehen Frauen in einer Schlange.
Eine Gemeinschaftsküche nordwestlich von Khartum, 23. April 2024. (Foto: Picture Alliance / Xinhua News Agency | M. Khidir)

Von Freiwilligen betriebene Notfalleinrichtungen – sogenannte ERRs – sind im Sudan zum Rettungsanker für Millionen von Menschen geworden. Ihr Ursprung liegt in der Revolution von 2018/19. Das Credo: dezentral und nah dran an der lokalen Bevölkerung.

Von Leena Shibeika

„Von der ersten Kugel bis zu dem Moment, in dem ich diesen Tweet schreibe, hat keine einzige Regierungsbehörde oder irgendjemand anderes sich um die sudanesischen Zivilist:innen in den umkämpften Gebieten gekümmert – außer den Notfallnetzwerken der Komitees. Junge Männer und Frauen riskieren seit eineinhalb Jahren ihr Leben, um für tausende Sudanes:innen Nahrung, Medizin und soziale Dienste zu organisieren.“ – Moe Faisal auf X

Am Samstag, den 15. April 2023, wachten die Menschen mit dem Geräusch von Schüssen auf. Dieser Morgen markierte den Anfang; heute hat sich der Konflikt im Sudan zu einem brutalen Krieg und zur weltweit schwersten humanitären Krise ausgeweitet.

Was sich im Sudan entwickelt, ist das Ergebnis eines Machtkampfs zwischen dem General der sudanesischen Armee, Abdel Fattah al-Burhan, und den von General Hemedti angeführten paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF). Ihr Konflikt ist heute eine der größten Fluchtursachen der Welt. Über 14,6 Millionen sind vertrieben worden, während in großen Gebieten eine Hungersnot herrscht.

Einige Tage nach Ausbruch des Krieges waren die sozialen Medien im Sudan von Hilferufen überflutet: Möglichst viele Menschen mussten aus den Kampfgebieten in der Hauptstadt Khartum evakuiert werden. Aus den Aufrufen entwickelte sich schnell ein kollektives Netzwerk, das bis heute versucht, die Grundbedürfnisse der im Kampfgebiet eingeschlossenen Menschen zu decken.

Die Netzwerke, genannt Emergency Response Rooms (ERRs), werden von Freiwilligen getragen, die als Bürger:innen und Aktivist:innen zusammenkommen, um gemeinsam die lebenswichtige humanitäre Versorgung auf die Beine zu stellen.

Selbstorganisation an der Basis

Die ERRs tauchten zum ersten Mal während der sudanesischen Dezemberrevolution 2018 auf, als lose und spontane Infrastruktur. Anfangs profitierten sie von den zivilgesellschaftlichen Netzwerken, die sich bereits unter dem Namen Neighbourhood Resistance Committees (NRCs), also Nachbarschaftliche Widerstandskomitees, gegründet hatten. 

Diese spielten während der Revolution eine zentrale Rolle: Sie führten den politischen Widerspruch an, mobilisierten in den Stadtvierteln, organisierten Proteste und lokale Kampagnen, unter anderem zur Reinigung und Wiederherstellung von lokalen Räumen. 

Die ERRs wurden zum funktionalen Arm der NRCs und stellten, während sie überwacht und bedroht wurden, unter hochkomplexen Umständen eine Notfallversorgung sicher, inmitten von Internet- und Mediensperren.

Ein verwüsteter Krankenhausflur mit zerbrochenen Liegen.
Sudans Gesundheitswesen ist zerstört. Im Bild: eine Krankenhausstation in Omdurman, Juli 2024. (Foto: Picture Alliance / Xinhua News Agency | M. Khidir)

Die Rolle der ERRs kristallisierte sich im Juni 2019 weiter heraus, nachdem eine große Sitzblockade nahe dem Hauptquartier der Armee in Khartum gewaltvoll zerschlagen worden war. Demonstrant:innen hatten den Ort schon seit dem 6. April besetzt, den Sturz von Omar al-Baschir am 11. April erlebten die Protestierenden von dort aus, und auch danach blieb der Ort bis zur gewaltsamen Auflösung der Sitzblockade ein wichtiger Raum für den Widerstand. 

Die NRCs in Khartum mobilisierten die lokalen ERRs, um Spannungen zu deeskalieren, um Logistik aufzubauen und, am wichtigsten, um die Opfer der Niederschlagung des Protests medizinisch zu versorgen. 

Mit Ausbruch des Krieges im April 2023 begannen die ERRs, sich auf nationaler Ebene zu koordinieren, um humanitäre Hilfe zu leisten, lokale Krankenhäuser zu unterstützen, in den Nachbarschaften Notfallanlaufstellen aufzubauen und Gemeinschaftsküchen einzurichten. 

Die Hauptmotivation hinter sowohl den ERRs als auch den NRCs ist es, die lokalen Gemeinden zu schützen und zu unterstützen. Ihr Organisationsmodell ist komplett dezentral und basiert auf lokaler, kommunaler Infrastruktur. Jedes Gebiet oder Viertel hat seinen eigenen ERR, der sich mit dem großen Netzwerk der Einrichtungen im ganzen Land koordiniert, aber vor Ort unabhängig operiert.

Dieser kollektive Geist ist vom Begriff nafeer inspiriert, einem arabischen Wort, das im Sudan gebräuchlich ist. Es beschreibt eine Praxis der schnellen, kollektiven Organisation von gegenseitiger Hilfe in einer Gemeinschaft oder Nachbarschaft. Nafeer ist in der sudanesischen Kultur tief verankert, wo sozialen und ökonomischen Herausforderungen mit kollektivem Handeln begegnet wird.

Im Sudan sind gegenseitige Hilfe und Solidarität seit Langem zentral, wenn es darum geht, wie Gemeinschaften überleben und Widerstand leisten – ob beim Aufbau mobiler Kliniken während der Proteste, bei der Verteilung von Medizin, Nahrung und Gas während der Covid-19-Pandemie, oder beim Sammeln von Lebensmitteln und der kollektiven Arbeit, um lokale Infrastruktur wieder in Stand zu setzen. Diese alltäglichen Interaktionen sind überlebenswichtige Formen des Widerstands und zentral, um das Leben nach einer Krise wieder aufzubauen.

Es mangelt an internationaler Hilfe

„In letzter Zeit ist der Wechselkurs gestiegen, gemeinsam mit den Nahrungsmittel-, Material- und Mietpreisen. Die Situation wird angespannter, besonders weil es keine Jobs gibt, das Internet ausfällt und die Spenden nicht ankommen. Viele Menschen sind komplett von Gemeinschaftsküchen abhängig, in Schulen campieren Familien und Kinder (in allen Regionen). Es gibt kaum Dokumentation von dem, was in den Schulen passiert, oder über die schlechte humanitäre Lage und Gesundheitsversorgung im Sudan.“  Abushama auf X

Die Präsenz und die Arbeit der ERRs inmitten der extremen Gewalt waren von den ersten Wochen des Krieges an entscheidend. Wer in Khartum und anderen Regionen des Landes das Haus nicht verlassen konnten, war auf die Freiwilligen angewiesen. Sie bemühten sich um medizinische Versorgung, die Organisation von Gemeinschaftsküchen, Stromversorgung und eine möglichst funktionale Infrastruktur. 

Die Bedeutung der ERRs wurde noch deutlicher, als mehrere Organisationen ihre Aktivitäten in den vom Konflikt betroffenen Gebieten einstellten und die internationale humanitäre und finanzielle Hilfe unterbrochen wurde. 

Die humanitäre Lage hat sich durch die seit Kriegsbeginn bestehende Blockade der Kommunikationswege im Sudan, die gezielten Angriffe auf Journalist:innen, die Zerstörung der Bank- und Finanzinfrastruktur sowie die Verschlechterung des internationalen politischen und wirtschaftlichen Klimas weiter verschärft. Das Ergebnis ist die völlige Isolation des Sudan und der sudanesischen Bevölkerung, die über die institutionellen Kanäle keine Hilfe mehr erhält.

Im Inland stehen die ERRs vor immer größeren Herausforderungen. Freiwillige Helfer:innen an der Basis riskieren weiter täglich ihr Leben, um in den vom Krieg zerrütteten Bundesstaaten Hilfe zu leisten und die Bevölkerung zu ernähren. Dabei sind sie mit zunehmender Ressourcenknappheit und ständigen Angriffen, Schikanen und Kriminalisierung durch beide Kriegsparteien konfrontiert.

Mit dem Fortschreiten des Krieges wird es für ERRs aufgrund logistischer Hürden wie Straßensperren, belagerten Gebieten und begrenzten Vorräten an Medikamenten, Treibstoff und Lebensmitteln immer schwieriger, ihre Arbeit zu koordinieren.

Humanitäre Hilfe neu denken

Angesichts dieser Herausforderungen zeigt das Modell der ERRs für die Hilfe an der Basis ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse der lokalen Gemeinschaft. Die ERRs haben bewiesen, dass sie in der Lage sind, ähnliche Unterstützungsnetzwerke in der sudanesischen Diaspora zu schaffen, die sich in einem Klima extremer internationaler Isolation und Vernachlässigung zu einer wichtigen Stütze entwickelt haben. 

Diaspora-Initiativen und -räume haben die Arbeit der ERRs erfolgreich unterstützt, wo internationale Organisationen ins Stocken geraten sind. Sie leisteten finanzielle und logistische Unterstützung und übernahmen die Führung von Sensibilisierungs- und Advocacy-Kampagnen. Diese länderübergreifende Zusammenarbeit verdeutlicht das immense Potenzial der Bemühungen an der Basis und der gegenseitigen Hilfe, sowohl vor Ort als auch in der Diaspora.

Die Emergency Response Rooms haben die humanitäre Landschaft des Sudan tiefgreifend verändert und die Widerstandsfähigkeit, das Fachwissen und die Leistungsfähigkeit lokaler Organisationen unterstrichen. Im Gegensatz zu traditionellen Hilfsmodellen dezentralisieren die ERRs die Entscheidungsprozesse und die Verteilung, indem sie sich auf Nachbarschaftskomitees stützen, um den Bedarf zu bewerten, die lokalen Gemeinschaften zu konsultieren, Hilfsgüter zu verteilen und Ressourcen durch kommunale Netzwerke zu mobilisieren. 

Sie passen die humanitären Bemühungen an und nutzen lokales Wissen, um beispielsweise sichere Versorgungswege zu gewährleisten, Schulen in Notunterkünfte umzuwandeln oder Medikamente von informellen Lieferanten (insbesondere Diaspora-Netzwerken) zu beziehen – alles Bemühungen, die auf sozialem Vertrauen beruhen.

Dieser kulturell verankerte Ansatz gewährleistet, dass sich die Hilfe an gesellschaftlichen Entwicklungen orientiert und weit gestreut wird. ERRs sind ein überzeugendes Beispiel dafür, wie Krisenreaktion schnell, anpassungsfähig und nachhaltig sein kann, wenn sie in Basisstrukturen verwurzelt ist. Sie bieten ein hervorragendes Modell für ein Umdenken in der globalen humanitären Hilfe.

 

Dieser Text eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.

 

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