Kosmos der Subkulturen
In der lockeren Erde wachsen tiefe starke Wurzeln, aus ihnen ragt ein stolzes Mikrophon über den grünen Rasen. Es steht unter blauem Himmel und lädt ein, hinein zu sprechen. Man müsste sich dafür leicht bücken, entfaltet doch der Himmel bisher keine Weite, der Untergrund nimmt den meisten Raum des Bildes ein. Dies ist das Poster von Ahmad Abdallas neuem Film Microphone (Ägypten 2010).
Das Publikum des Cairo International Film Festival vom Dezember 2010 hat der ägyptischen Premiere des Streifens mit großer Spannung entgegengesehen, nachdem er bereits auf zahlreichen internationalen Festivals zu sehen war und hoch gelobt wurde. In Tunis hatte er den Hauptpreis des Festivals gewonnen, in Kairo wurde er schließlich bester arabischer Film – eine höhere Auszeichnung konnte aufgrund internationaler Festivalregularien nicht vergeben werden.
Neue Dynamik
Der Film gehört zu einer Reihe jüngerer Produktionen aus Ägypten, durch die das Land international wieder stärker als Filmnation wahrgenommen wird und die gleichzeitig eine neue Dynamik vor Ort dokumentieren. Microphone erzählt die Geschichte von Khaled (Khaled Abol Naga), der nach einigen Jahren im Ausland in seine Heimatstadt Alexandria zurück kehrt. Schnell merkt er, dass er nicht einfach an sein früheres Leben in der Stadt anschließen kann. Seine Ex-Freundin Hadeer (Gastauftritt: Menna Shalabi), die er gerne zurück gewinnen würde, ist im Begriff, das Land zu verlassen, die Beziehung zu seinem Vater (Gastauftritt: Mahmoud El Lozy) ist irreparabel.
So streunt Khaled durch die Straßen der Stadt und entdeckt Schritt für Schritt eine vibrierende Subkultur. Er entschließt sich, den jungen Künstlerinnen und Künstlern mit seinen alten Kontakten und limitierten Mitteln zu helfen, Auftrittsmöglichkeiten sowie Proberäume zu bekommen. Dabei lernt er Selma (Yousra El Lozy) und Magdy (Ahmed Magdy) kennen, zwei Studierende, die gerade ihren Diplomfilm über den Alexandriner Underground drehen. In seinem Gastauftritt spielt der ägyptische Regisseur Yousry Nasrallah (El-Medina / Die Stadt) sich selbst als Dozenten, der die Ethik des dokumentarischen Filmens unterrichtet.
Aus der Perspektive der Künstler
Microphone sollte ursprünglich selbst ein Dokumentarfilm werden: Während eines Sommerurlaubs in Alexandria fielen Ahmad Abdalla die vielen Graffitis im öffentlichen Raum auf. Besonders angetan war er von den Sprühereien einer 18-jährigen Künstlerin, die er schließlich über Freunde treffen konnte und die ihn wiederum mit Bands, Skatern und diversen Aktiven der alternativen Szene der Stadt bekannt machte. Vor Abdalla tat sich ein Kosmos auf, der ihm bis dato völlig unbekannt war und den er dokumentieren wollte.
Er diskutierte die Idee mit den potentiellen Protagonisten und entschied sich letztendlich für eine Fiktionalisierung des Stoffes: "Ich wollte einen Spielfilm machen, der aus einer Reise durch die Straßen, Alleen und Dächer der Stadt besteht und in dem Khaled – die Hauptfigur – die Zuschauer an der Hand durch die verschiedenen Zwischenhalte führt, zu denen Menschen, Subkulturen und künstlerisches Schaffen zählen, die alle in der Stadt existieren, aber oft unsichtbar für uns sind. Die Reise basiert auf den wirklichen Geschichten der Künstler und ist aus deren Sicht erzählt."
Alexandrias Subkulturen
Alle Protagonisten der Subkultur spielen sich selbst und haben ihre Rolle zusammen mit Abdalla entwickelt. Auch wenn nur eine relativ kleine Auswahl der Szene, unter anderen die Hip-Hop Band Y-Crew oder die Frauen Heavy-Metal Combo Mascara, das Sprayer-Duo Aya & Ragab und der Skater Yaseen mitmachen, zieht die Vorstellung des "Underground" den Film in seinem letzten Drittel zunehmend in die Länge. Dennoch entfaltet Microphone eine Magie: Khaled Abol Naga, der die fiktive Figur Khaled spielt, ist in Ägypten vor allem als Star des alles beherrschenden kommerziellen Kinos bekannt. Er verkörpert, wie auch Yousra El Lozy und Menna Shalabi Träume.
Der Traum, in den er sein Publikum in Microphone führt, ist die Realität: ein ad-hoc Konzert auf der Straße, ein mobiles Tonstudio im VW-Käfer am Strand, Jugendliche, die auf ihren Skateboards durch die Straßen und über Plätze gleiten oder mit Mut und Witz den Betonmauern zu etwas Leben verhelfen.
"Ich habe mich entschieden, einen unabhängigen Low-budget Film mit einer Crew von nicht mehr als acht Personen zu machen. Ich wählte eine Kamera, die nie zuvor für solch einen Film benutzt wurde, eine Fotokamera, die Videos dreht. Dies gab uns den Vorteil, unbemerkt auf der Straße zu filmen und dadurch das tägliche Leben in der Stadt und an Orten einzufangen, wo uns dies mit aufwändigerer Ausstattung unmöglich gewesen wäre", erzählt Abdalla.
"Allen ein Mikrophon!"
Nicht nur diese Vorgehensweise, die er finanziell nicht nötig gehabt hätte, wie der Regisseur in einem BBC-Interview sagte, sondern auch der Cast des Films haben den Charakter einer Demonstration: Viele Filmschaffende sind des Kommerzes und des Eskapismus überdrüssig und drängen danach, sich mit der Realität im Land auseinander zu setzten, den Stillstand und die seit vielen Jahren dominierende Frustration der zerfallenen Mittelschicht aufzubrechen. Zunehmend werden Filme produziert, die die Produktionskosten an der Kasse nicht wieder einspielen werden und für die es, anders als in Europa, keine staatlichen Subventionen gibt. Auch zahlreiche Filmschaffende ohne öffentliches Gesicht produzieren unabhängig.
Dem früheren Kriegsfotografen Ibrahim El Batout ist nach zähen Kämpfen das Kunststück gelungen, ein Kino für seinen Film Ein Shams (2008) zu finden und in einer Stadt mit ausschließlich kommerziellen Filmtheatern zu beweisen, dass sich auch für Experimente ein Publikum findet. Im Publikumsgespräch von Microphone hat sich Produzent Mohamed Hefzy auf diese Kollegen und "ihre wichtige Arbeit" bezogen und damit ein ernsthaftes Interesse am Diskurs über die Bandbreite neuer kineastischer Wege zu führen bekundet.
Auch der Slogan "Allen ein Mikrophon!" von Seiten des Filmteams war erfrischend glaubhaft und hat beim Publikum, grade nach dem immensen Wahlbetrug bei den vergangenen Parlamentswahlen in Ägypten, für begeisterten Applaus gesorgt.
Irit Neidhardt
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de