Gegenwind für islamische Reformer
Die religiös-theoretische Kontroverse zwischen den beiden islamischen Gelehrten Abdolkarim Sorusch und Seyyid Hossein Nasr wirft ein Schlaglicht auf die Spaltung der konservativen und reformislamischen Kräfte, die sich heute unversöhnlicher denn je gegenüber stehen. Faraj Sarkohi informiert.
Das "Zentrum für den Dialog der Zivilisationen", eine staatliche Vereinigung, die sich die Ausweitung des Dialogs zwischen den Kulturen der Welt zum Ziel setzt, hatte im vorletzten Monat mehrere iranische und ausländische Akademiker zu einem Seminar über das Thema "Islam und Moderne" in Teheran eingeladen.
Die inhaltliche Ausrichtung dieses Seminars war nicht neu und griff eine mehr als hundertjährige Debatte auf. Die Gäste waren nur in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen bekannt. Daher ging man davon aus, dass das Seminar ohne großes öffentliches Interesse und fern der Medien seinen Lauf nehmen würde.
Doch die heftige Auseinandersetzung zweier Gelehrter über eine rein theoretische Fragestellung am Rande dieses kulturellen Seminars fand rasch Eingang in das Parlament, die Moscheen, die religiösen Hochschulen, die Medien, die Universitäten und die Machtzirkel des Landes.
Laizismus versus islamische Demokratie
Einer der geladenen Gelehrten, Dr. Abdolkarim Sorusch, konnte nicht persönlich teilnehmen, da er zuvor von Mitgliedern des Geheimdiensts Drohanrufe erhalten hatte.
Sein Vortrag musste schließlich verlesen werden. In den letzten beiden Jahrzehnten forderte Sorusch die Fundamentalisten heraus, die an eine Verwirklichung der religiösen Gesetze und an die islamische Regierung glauben, indem er sich dagegen wandte, politische und wirtschaftliche Modelle aus dem Koran herauszuziehen.
Gleichzeitig distanzierte er sich durch sein Eintreten für eine islamische Demokratie von den laizistischen Kräften, die eine Trennung von Staat und Religion fordern und sich für ein parlamentarisches System einsetzen.
Noch während der Schahzeit stand Sorusch auf der Seite der Fundamentalisten. In den ersten Jahren nach der Revolution hatte er bedeutende Posten inne und war etwa für die Säuberung der Universitäten von nichtreligiösen Professoren verantwortlich.
Nach einiger Zeit wandte er sich von den Fundamentalisten ab. Er entwickelte neue Ideen und wandelte sich zum wichtigsten Denker der religiösen Reformer. Auf politischem Gebiet unterstützte er den vorherigen Präsidenten Khatami und den Flügel der religiösen Reformer, deren Anführer zum Großteil seine Schüler und Anhänger waren.
Der Grund für die Abwesenheit des zweiten geladenen Gastes, Prof. Seyyid Hossein Nasr, einer der herausragendsten zeitgenössischen Islamwissenschaftler, wurde nicht genannt.
Nasr studierte unter anderem islamische und westliche Philosophie an renommierten amerikanischen Universitäten – wie dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Harvard Universität – sowie an den bedeutendsten iranischen theologischen Hochschulen und bei führenden religiösen Autoritäten.
Nasr, der auf Englisch, Arabisch und Persisch bedeutende Werke über islamische und westliche Philosophie veröffentlichte und Lehrstühle an führenden amerikanischen Universitäten innehatte, oblag zur Schahzeit die Leitung einer der wichtigsten iranischen Universitäten. Und er war einer der einflussreichsten Mitglieder des Büros von Farah Diba, der mächtigen Ehefrau von Mohammad Reza Schah.
Fundamentale Kritik an islamischen Reformern
Nach der Revolution war er als Vertreter des alten Regimes der Verfolgung durch die herrschenden Geistlichen ausgesetzt. Er kehrte in die USA zurück und übernahm erneut Lehraufträge an Universitäten.
Während die erste Generation der Revolutionsführer unter den konservativen Geistlichen im Iran bis heute die Ermordung des Gelehrten fordert, hat ein Teil der zweiten Generation der Führungsebene in der Islamischen Republik, wie z.B. Dr. Hodad Adel, der gegenwärtige Parlamentssprecher und Schwiegersohn des religiösen Führers Khamenei, den Weg in Nasrs Unterrichtsklassen gefunden und verkündet nun stolz, zu einem seiner Schüler zu zählen.
In seinem konfliktträchtigen Interview verglich Nasr, nach seinen Ansichten über die Arbeiten und die Ideen von religiösen Reformern wie Sorusch befragt, diese mit zweitklassigen westlichen Intellektuellen, die weder den Islam noch den Westen kennen.
Er stellte heraus, dass die gedanklichen Anstrengungen der islamischen Reformer, den Islam mit der Moderne in Einklang zu bringen, nichts anderes bedeuten, als den Islam seines grundlegenden Inhalts zu entleeren.
Nasr vertritt die Ansicht, dass sich die Moderne, an den Islam anpassen muss und nicht der Islam an die Moderne. Einer der Zielgedanken des Korans sei die Schaffung einer islamischen Gesellschaft, die unter einer islamischen Regierung, basierend auf den koranischen Gesetzen und der Sunna des Propheten, den Menschen den Weg zu einem sinnerfüllten und befriedigenden Leben ebne.
Westlicher Humanismus, Rationalismus und Liberalismus hätten den Menschen, die Vernunft und die Mehrheitsentscheidung an die Stelle Gottes, des Glaubens und der ewigen und zeitlosen Gesetze gestellt und den Menschen von Gott entfernt.
Die Bemühungen der religiösen Reformer den Koran an Konzepte wie die Menschenrechte und eine parlamentarischen Regierung anzunähern, stellten eine Abweichung von der Religion dar.
Alle islamischen Strömungen in Iran, darunter auch die religiösen Reformer, betrachten Nasr als bedeutendsten zeitgenössischen Islamwissenschaftler.
Sein Angriff auf die religiösen Reformer zusammen mit seiner Bestätigung einer fundamentalistischen Koraninterpretation, hat diese aufgebracht. Denn der Schlag gegen die religiösen Reformer kam dieses Mal nicht erwartungsgemäß von der traditionalistischen Geistlichkeit, sondern von einem Absolventen der Harvard Universität und des MIT – von einem Islamwissenschaftler, der in westlichen akademischen Kreisen wissenschaftliches Ansehen genießt wie kaum ein anderer Iraner.
Traditionalistische Sichtweisen der Konservativen
Sorusch und die religiösen Reformer finden in diesen Quellen nur wenige beweiskräftige Untermauerungen für ihre Thesen. Gegen Nasr wenden sie sich in erster Linie aus politischen Gründen. Indem sie auf die negativen Auswirkungen des Traditionalismus in der gesellschaftlichen Praxis verweisen, versuchen sie die Wirkung seiner Rede einzudämmen.
Sorusch bezeichnete in seiner Rede in der "Hosseiniyeh Ershad" die Ansichten Nasrs als traditionalistisch und verwies darauf, dass Traditionalismus zu Fundamentalismus führe und dieser wiederum den Terrorismus nähre.
Sorusch spielte dabei auf Nasrs jüngstes Buch "amre qudsi" (Die heilige Sphäre) an und bezeichnete Nasr als einen Mann, der sein Teleskop einst im Büro von Farah Diba aufgestellt habe, um am höfischen Himmel die heilige Sphäre zu entdecken. Mit seinem Verweis auf die Zusammenarbeit von Nasr mit dem Schahregime versuchte Sorusch, den Groll der traditionalistischen Konservativen anzustacheln.
Nasr greift die religiösen Reformer zu einem Zeitpunkt an, an dem sie auf theoretischem und politischem Gebiet geschwächt sind. Auf politischem Gebiet haben sie das Präsidentschaftsamt, die Mehrheit im Parlament und die Unterstützung des Großteils der Bevölkerung an ihrer Konkurrenten verloren.
Vereinbarkeit von Islam und Moderne auf dem Prüfstand
Die wichtigsten Thesen der religiösen Reformer – die islamische Demokratie und die Vereinbarkeit von Islam und Moderne – scheiterten an der Praxis. Der Widerspruch der Auffassung der Reformer mit den klaren Aussagen zu islamischen Gesetzen im Koran lähmt sie auf theoretischem Gebiet.
Die islamische Welt hat sich zunehmend den konservativen Kräften zugewandt. Die Reformer wurden an den Rand gedrängt, und ihr Einfluss in den islamischen Gesellschaften beschränkt sich auf einige intellektuelle Zirkel.
Die weit reichenden Reaktionen auf eine theoretische Debatte und die Präsenz des einflussreichen Denkers Nasr, einem Islamwissenschaftler, den die islamischen Reformer und Pragmatiker als ihren gedanklichen Feind ansehen und dem die traditionalistischen Konservativen mit dem Tode drohen, zeigt, dass die Spaltung des herrschenden Flügels der Konservativen in zwei Lager abgeschlossen ist: die traditionalistischen Konservativen der alten Garde und die radikalen Fundamentalisten der zweiten Generation.
Von nun an regieren in Iran anstelle der drei Flügel der islamischen Konservativen, der Pragmatiker und der Reformer nunmehr vier Gruppierungen.
Der vierte Flügel, die zweite Generation der islamischen Radikalen in Iran, hat ihre Jugend während der Revolution und dem achtjährigen Krieg gegen den Irak verbracht. Nach dem Krieg übernahmen sie, begünstigt durch die politische und ideologische Schwäche ihrer Gegner, mit Slogans von der Rückkehr zum revolutionären Islam und populistischen Programmen nach und nach die meisten Machtpositionen.
Um ihre radikalen Positionen in ein islamisches Gewand zu kleiden, benötigen sie einen Theoretiker wie Nasr, der mit dem Islam besser vertraut ist als die meisten hochrangigen Geistlichen, den Westen besser kennt als die religiösen Reformer und zudem machtvoll Traditionalismus, die Rückbesinnung auf die reinen islamischen Werte und eine islamische Regierung verteidigt.
Zweifelsohne haben die Positionen von Nasr das verlorene Selbstvertrauen einer Generation gestärkt, die sich selbst als Träger eines göttlichen Auftrags und als Soldaten eines heiligen Krieges sieht.
Faraj Sarkohi
© Qantara.de 2006
Aus dem Persischen von Sabine Kalinock
Faraj Sarkohi begründete 1985 das Kulturmagazin "Adineh" (Freitag), deren Chefredakteur er für elf Jahre war. Als einer der Wortführer der Schriftsteller-Initiative ("Text der 134") gegen Zensur wurde er 1996 verhaftet. Ein Jahr darauf wurde er in einem geheimen Verfahren zum Tode verurteilt. Durch internationale Proteste konnte das Urteil jedoch revidiert werden. Er durfte aus dem Iran nach Deutschland ausreisen, wo er 1998 den Kurt-Tucholsky-Preis für politisch verfolgte Schriftsteller erhielt. Er ist Ehrenmitglied des PEN-Zentrums Deutschland.
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