Schreiben wie überall – und doch nicht
Als ich ein Junge von fünf oder sechs Jahren war, hatte ich einen fünf- oder sechsjährigen Freund, der bei uns in der Nachbarschaft wohnte und regelmäßig zu uns nach Hause kam. Ich nenne ihn nicht 'Spielgefährten', denn wir gaben uns nie mit Kinderspielen ab.
Unsere Freundschaft bestand nur aus Gesprächen und Träumereien von fernen Zeiten. Manchmal erzählten wir einander auch von unseren Freuden und Sorgen. Ich erinnere mich, wie er mir eines Tages die Spuren von den Schlägen seiner Mutter zeigte und sagte: "Heute habe ich zu meiner Mutter gesagt: 'Warum hast du mich überhaupt geboren?'" Er erzählte mir das, wie es auch sonst seine Gewohnheit war, mit einem Lächeln, was die Bitterkeit seiner Worte allerdings nur umso stärker und nachhaltiger machte.
Warum geboren?
In jener Zeit und noch Jahre danach begriff ich die offene und verborgene Bitterkeit jener Worte noch nicht so recht. Es muss wohl nach Ende des Gymnasiums gewesen sein, als ich mich zum ersten Mal daran machte, die vergangenen Jahre neu zu betrachten und wiederzuentdecken, und dabei alles von Neuem erlebte, darunter auch jenen Satz. Für mich, der ich damals gerade meine ersten Kurzgeschichten geschrieben hatte, stellten die Worte "Warum hast du mich überhaupt geboren?" die bittere Anklage und den verzweifelten Aufstand eines Geschöpfes gegen die Schöpfung dar.
Ich sah, wie hier die Schöpfung in Zweifel gezogen worden war und sich vor ihr die Frage aufbaute: "Ist das Leben jeden Preis wert?" Jener Freund meiner Kindertage hatte in seiner kindlichen Welt Zustände erlebt, die ihm das Nichtsein wertvoller erscheinen ließen als das Sein.
Auf Jahre hin sollte dieser Zweifel an mir nagen und hemmte meine schriftstellerische Schaffenskraft. Ich dachte stets an die Kurzgeschichten, die ich auf der Flucht verloren hatte, an die Texte, die ich niemals drucken konnte und die ich zensierte oder entstellte, und an die Personen, deren Frühgeburt und lebenslange Behinderung ich mit meinen zahllosen Unzulänglichkeiten selbst verschuldet hatte, und stellte die Frage, ob diese nicht auch das Recht hätten, die Schöpfung anzuklagen, ob sie nicht auch das Recht hätten, mich vor Gericht zu bringen.
Zweifellos hatten jene Worte, jene Bilder, jene Ereignisse ein besseres Leben verdient, eines, um das ich sie gebracht hatte. Wie schade! Mit der Zeit gelangte ich zur Überzeugung, dass Mitwirkung an der Schöpfung in jeder ihrer Formen Verantwortung voraussetze. Später gab ich mich idealistischen Vorstellungen hin. Ich war fest entschlossen, entweder das beste Werk zu schreiben oder gar nicht zu schreiben.
Dieser Anspruch dürfte mein Leben in den meisten Aspekten für mehrere Jahre gelähmt haben. Vor allen Dingen führte er zu Schreibflucht, Angst und Hemmungen. Nach und nach jedoch gewann die Lust am Schreiben wieder die Oberhand über mich, und ich erkannte, dass das Schreiben der Kern eines anderen Lebens war, das nichts mit jenen idealistischen Träumereien zu tun hatte. Ich fuhr fort, Geschichten voller Unvollkommenheiten und Unzulänglichkeiten zu schreiben, und dieses Mal sah ich mich einer grundsätzlicheren Frage gegenüber, nämlich: "Warum schreibe ich überhaupt?"
1 – Warum ich schreibe
Die Frage nach dem Warum des Schreibens ist eine Grundsatzfrage. Die meisten Schriftsteller schreiben, ohne jemals in ihrem ganzen Leben in sich zu gehen und einmal ernsthaft zu fragen: "Warum?"
Schriftsteller verfügen über die Gabe der Scharfsichtigkeit und beobachten sorgfältig die Entwicklungen in ihrem Umfeld. Sie versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie betrachten die Welt, die Natur, die Gesellschaft, die Geschichte, das Leben und sogar ihr Inneres und suchen besessen nach neuen Themen, fragen jedoch nicht nach den Motiven und Ursachen des Schreibens. Schreiben ist für sie so selbstverständlich, dass es ihnen lächerlich und überflüssig vorkäme, über die Gründe dafür zu sprechen.
Immer wenn ich ein Interview mit einem Autor sehe, erwarte ich diese Frage und sehne mich danach, die Antwort zu hören. Bis heute hat es sich bei diesen Antworten im Allgemeinen um eine Flucht vor der Frage gehandelt. Die Antworten haben sich nicht wirklich auf den Kern der Frage bezogen.
Eine meiner Lieblingsantworten hat ʿAtīq Raḥīmī, der Autor von Der geduldige Stein, vor vier Jahren einer Zeitung gegeben. Er sagte: "Ich schreibe, um herauszufinden, warum ich schreibe." Dieser Formulierung zufolge ist die Ursache des Schreibens so verborgen und unzugänglich, dass sie sich nur in stetiger Suche und kräftezehrender Anstrengung erschließt, auf einer Bewusstseinsstufe also, die sich nur mit der Askese des Schreibens eröffnet.
Bei dem letzten Beispiel wiederum, das ich gesehen und behalten habe, handelte es sich um das Interview eines anderen Schriftstellers aus Afghanistan mit einem einheimischen Sender. Der Journalist fragte: "Warum schreiben Sie?", und der Schriftsteller antwortete ungehalten und erregt: "Warum rauchen Sie?"
Vor lauter Enttäuschung darüber, keine passende Antwort parat zu haben, hatte der Schriftsteller das Gefühl, man wolle ihn mit dieser unerwarteten und spöttischen Frage in Verlegenheit bringen und angreifen. Der Vergleich zwischen Schreiben und Rauchen sowie die Antwort mittels Gegenfrage stellten eine – durchaus intelligente – Abwehrreaktion dar.
Zwar gefällt mir dieser Vergleich nicht sonderlich, weil ich denke, dass der Ansturm der Wörter auf den Schriftsteller ein stärkeres Motiv darstellt als das, was uns zu Rauchern macht. Aber ist die Frage überhaupt so beängstigend? Und warum? Schriftsteller und Dichter glauben an das Schreiben, und Glaube wiederum entzieht sich der Logik.
Die Anfechtung von Gewissheiten und Überzeugungen ist für Gläubige immer schon schwer zu ertragen gewesen. Sie wissen, dass ihr Schicksal mit den Wörtern verwoben ist und dass sie schreiben müssen. Sie wissen aber nicht warum. Sie sagen, dass sie eine sehr tiefe, ihrem Wesen und ihrer Seele anhaftende Neigung zu einer solchen Tätigkeit bewege.
Andere schreiben es einer außerordentlichen Begabung zu, wieder andere einer dunklen Seelenkraft. In meiner Überzeugung handelt es sich um eine Frage, die sich immer wiederholt, mit Antworten, die sich wiederholen, um eine Frage, die sich wie alle Grundsatzfragen einer endgültigen Antwort entzieht. Es ist eine Frage für alle Jahreszeiten, mit der man leben kann, ohne ihrer müde zu werden.
Zwei – Innere Reise
Wenn wir uns von der Frage nach dem Warum des Schreibens abwenden und in einer inneren, privaten Reise nach ihrer Antwort suchen, erscheinen die anderen Fragen, so etwa die nach dem Wie des Schreibens, einfacher.
Vermutlich gleichen sich die Methoden des Schreibens der verschiedenen Schriftsteller mehr oder weniger und kommen über eine überschaubare Anzahl nicht hinaus. Am Anfang steht ein Ereignis, ein Ereignis, das plötzlich eine schlummernde Leidenschaft in ihnen wachruft. In anderen Fällen ist jene Leidenschaft schon von Anfang an wach.
Jenes erweckende Ereignis nun bestand für mich in der Lektüre einer Kurzgeschichte des russischen Schriftstellers Maxim Gorki mit dem Titel Kummer ohne Ende. Die Geschichte spielt in einem Kellergewölbe und erzählt einen mitleiderregenden Ausschnitt aus dem Leben eines schönen, intelligenten und gelähmten Jungen mit seiner Mutter, einer Prostituierten und Trinkerin.
Die betreffende Szene war so beeindruckend und ergreifend geschrieben, dass sie mein Leben für immer veränderte. Immer noch träume ich manchmal von jenem feuchten Gewölbe mit jenem neugierigen und sehnsüchtigen Jungen.
Unter dem Eindruck jener Erzählung schrieb ich meine erste Kurzgeschichte mit dem Titel Dornengestrüpp, in der ich versuchte, einen Tag aus dem Leben eines klugen Jungen, der mit einer schrecklichen Mutter zusammenlebt, zu schildern, jenes Jungen, den ich in längst vergangenen Jahren gekannt, jedoch, wie das Schicksal es wollte, für immer aus den Augen verloren hatte, jenes Jungen eben, der mich zum ersten Mal die Auflehnung gegen das Leben gelehrt hatte.
Dadurch hatte sich die Frage nach dem Leben und dessen Wesen für immer in meiner Seele festgesetzt und ist bis heute bestehen geblieben. Der Anblick des Leidens von Menschen, Tieren und anderen Wesen, die einen Anteil am Leben haben, bewirkt in mir vielerlei Erregung und Verwunderung und wird mich nie loslassen.
Seit vielen Jahren schon sehe ich auf der Straße kleine Mädchen und Jungs, die betteln, kenne Junge und Alte, die zu anstrengenden Arbeiten gezwungen werden, und höre auch von kleinen Kindern und Frauen, die auf alle möglichen Arten missbraucht worden sind. All dies veranlasst mich, alles mit neuen Augen zu betrachten. Heutzutage gibt es so viele Bettler und Kinderarbeiter in den Straßen von Kabul wie nie zuvor, soweit ich zurückdenken kann. Ihre Augen und Gesichter fragen: "Warum hat man uns in den Zustand des Seins geholt? Im Nichtsein ging es uns viel besser."
Ich sage: "Worüber klagt ihr? Das Leben ist nun mal so. Niemand ist gekommen, weil er es wollte. Alle müssen leiden, jeder auf seine Weise." Doch sogleich tut es mir leid. Ich zweifle. Ich versinke in Ohnmacht und Ungewissheit. Ist das Leben wirklich nun mal so? Ich weiß es nicht. Diese Frage lässt mir keine Ruhe. Neulich habe ich gelesen, dass ein kleines Mädchen in Manila, der Hauptstadt der Philippinen, dieselbe Frage an Papst Franziskus, das Oberhaupt der Katholiken der Welt, richtete.
Dort setzen viele Eltern ihre Kinder aus finanzieller Not auf der Straße aus. Auch das kleine Mädchen, offenbar selbst eines von jenen Kindern, sprach vor den sehnsüchtigen Augen von Millionen Betender dieselbe Anklage aus, mit der mein kleiner Freund einst seine Mutter herausgefordert hatte und die Gorki in seiner Erzählung so meisterhaft beschreibt: "Warum?"
Danach fügte das Mädchen mit Tränen in den Augen hinzu: "Wir Kinder haben doch nicht gesündigt, warum werden wir dann so hart bestraft?" Papst Franziskus sagte ganz aufrichtig: "Ich weiß es nicht. Niemand weiß es."
Vielleicht bedarf die Klärung dieser Frage ja selbst einer inneren Reise. Die Erzählung des Lebens besteht in der Auseinandersetzung des Schriftstellers mit solch verstörenden Fragen und in der Verwicklung seiner Leser in diesen Konflikt.
Um das Leben kennenzulernen, müssen wir ständig immer noch tiefer bohren. Das Schreiben des Lebens besteht für mich und für viele andere Schriftsteller in diesem Bohren, einem Weg zur beständigen Entdeckung meiner selbst und der anderen, einer nicht endenden Suche in einem Feld von Fragen ohne Antwort.
Drei – In Afghanistan
Die Schriftsteller auf der ganzen Welt bilden eine Familie und schreiben mit gleichen Werkzeugen, ähnlichen Motiven und Methoden und aus Beweggründen, die aus dem Leben stammen. Literatur ist ein Buffet, das großzügig für alle bereitet ist. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen einem Schriftsteller aus Afghanistan und einem aus Deutschland, zwischen einem aus dem Orient und einem aus dem Westen.
Das Schreiben beginnt. Das Innere des Schriftstellers wird von einer leidvollen Erfahrung bewegt. Danach jedoch geht jeder seinen eigenen Weg. Ihre Wege trennen sich. Mit der Zeit wendet sich jeder Schriftsteller einem eigenen Stil und eigenen Themen zu.
Und hier nun zeigt sich die Bedeutung unserer Stadt, unserer Heimat und unserer Lebensumstände, die sich direkt auf unsere Kenntnis und Sicht der Welt auswirken. Während ein Schriftsteller Geschichten und Charaktere erschafft, erzählt er immer eine größere Geschichte mit dazu, die Geschichte seiner selbst nämlich.
Die Texte eines Schriftstellers aus Afghanistan sind voller Selbstzensur, Sehnsucht nach Freiheit, Sorgen wie der, nicht hungrig zu Bett gehen zu müssen und in Sicherheit leben zu können, innerer Konflikte und Nöte aller Arten. Deshalb wirken diese Texte für einen Leser aus einem anderen Land vielleicht oberflächlich und trivial.
Ein Werk aus Afghanistan lebt wie sein Autor in der Auseinandersetzung mit der Hülle des Lebens und den Grundbedürfnissen des Menschen. Auf diese Weise leben wir Schriftsteller auf weit voneinander entfernten Inseln. Die Schriftsteller aus Afghanistan wurden in der Zeit der Bürgerkriege und der Taliban-Herrschaft zu Berichterstattern und Totenklägern und in der Zeit danach zu Beamten und Anpassern.
Die schwerste Herausforderung besteht im Verlust des einheimischen Publikums und im Fehlen eines Buchmarktes. Schriftsteller und Künstler können von ihrem Schaffen nicht leben und werden auch von keiner staatlichen Institution gefördert. Natürlich sinkt das Schreiben in einer solchen Situation auf die Stufe einer Dritt- oder nicht selten gar einer Viertbeschäftigung herab. Es wird zu einer reinen Privatsache, der Schriftsteller und Künstler im stillen Kämmerlein nachgehen und für die sich die Gesellschaft nicht interessiert, und es gelangt nie zu Reife und Blüte.
Die innere Welt erinnert mich an die ersten Tage, in denen ich am Spiel mit den Wörtern Gefallen fand. Ich war nichts weiter als ein Kind, das Sätze ohne Sinn schrieb. Wahrscheinlich wollte ich dichten. Mit Mühe schrieb ich jene Sätze auf Schmierpapier, und ein paar Tage später verlor ich sie. Mit Fetzen von Papier und einem Stift erschuf ich mir eine eigene Welt, zu der niemand Zugang hatte. Ich war froh und stolz, dass ich sie hatte. Meine Wörterwelt entschädigte mich für die täglichen Enttäuschungen und Frustrationen, von denen es ja eine ganze Menge gab, Frustrationen als Folge von Krieg, Exil und äußerster Armut.
Indem ich die Erzählung entdeckte, fand ich meinen Lebensweg. Ich wurde von den endlosen Verirrungen der Jugendzeit erlöst und hatte das Gefühl, dass ich das Glück nur auf dem Weg des Erzählens finden würde. Lassen wir die Frage, was Glück ist oder was es sein kann. Ich begann, die unvergänglichen Werke aus der Welt der Literatur zu lesen und begeisterte mich vor allem für Dostojewski, Tschechow, Flaubert, Márquez, Stefan Zweig und Nietzsche. Dies waren nicht nur meine Lieblingsautoren, sondern vor allem Lehrmeister, von denen ich lernte, das Leben zu beobachten, von ihm zu erzählen und es so, wie es ist, zu umarmen.
Bevor ich deshalb für das Schreiben einen Sinn fand, stellte das Schreiben selbst für mich einen Sinn dar und wurde zu einem Grund und einem Anlass für das Leben. Bin ich also, um zu schreiben? Oder schreibe ich, um zu sein? Ich weiß es nicht. Vielleicht weiß das kein Schriftsteller. So ist das Schreiben für mich denn zur Berufung geworden. Zuweilen frage ich mich, ob ich mich, wenn ich in einer ruhigeren Ecke der Welt leben würde, dennoch gleich unwiderstehlich zum Schreiben hingezogen fühlen würde.
Was ist dann aber mit denen in einer ruhigen Weltgegend, die ihr ganzes Leben dem Schreiben gewidmet haben? Auf welchem Wege haben diese das Leben des Schreibens gefunden? Und hatten sie jene inneren Welten ebenso nötig wie ich und wir? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Vielleicht auf eine andere Weise.
Taqi Akhlaqi
Übersetzung: Urs Gösken
© Fikrun wa Fann 2015