Unter Belagerung
Am vergangenen Sonntag trafen im Gazastreifen 480 Testsets ein, die bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestellt worden waren. Nun können dort wieder Menschen auf das Coronavirus getestet werden. Nachdem dem zentralen Labor dort die Mittel zur Auswertung von COVID-19-Tests ausgegangen waren, warnte das palästinensische Gesundheitsministerium vor einem Gesundheitsnotstand:
Ashraf al-Qudra, ein Sprecher des Ministeriums, betonte letzten Donnerstag, der Mangel an solchen Vorräten führe zu einem enormen Rückstand bei der Bearbeitung von Tests. So werde die Befreiung hunderter Menschen aus der Isolation der Quarantäne verzögert. Während einer Pressekonferenz vom vergangenen Samstag appellierte Qudra an die internationale Gemeinschaft und die Hilfsorganisationen. Er bat, Gaza mit wichtigem Medizin- und Laborzubehör zu helfen.
Bis zum 14. April gab es in der Enklave 13 bestätigte Fälle von COVID-19, von denen sich neun wieder erholt haben. Vier befinden sich im Crossing-Field-Krankenhaus von Rafah an der ägyptischen Grenze in einem stabilem, isolierten Zustand.
"Bereits vor der Epidemie standen Gazas Kapazitäten nach über einem Jahrzehnt strenger Einschränkungen für Waren und Menschen unter hohem Druck", betont Suhair Zakkout, eine Sprecherin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC). "Dadurch ist das Gesundheitssystem bereits jetzt labil und nicht mehr in der Lage, einen Ausbruch des Coronavirus zu bewältigen."
Angst vor schneller Ansteckung
Beamte und Hilfspersonal haben große Angst vor einer Verknappung wichtiger Ausrüstung und medizinischer Vorräte. In diesem Fall könnte in dem belagerten Gebiet, das auf 36 Quadratkilometern eine Bevölkerung von zwei Millionen Menschen beherbergt, die Ansteckungsrate rapide steigen.
Momentan sind im Gazastreifen etwa 2.500 Krankenhausbetten verfügbar. In den 13 Krankenhäusern gibt es nur 110 Intensiveinheiten, von denen die meisten bereits belegt sind. Es fehlen 50 Prozent Medikamente und medizinische Ausrüstung, nur 93 Atemgeräte sind derzeit verfügbar.
Die primären öffentlichen Gesundheitseinrichtungen arbeiten mit eingeschränkten Kapazitäten und stellen nur die wichtigsten Leistungen bereit, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Es mangelt dort akut an wichtiger Medizin, Einwegartikeln, Untersuchungsausrüstung und spezialisierten Gesundheitsexperten. Laut Schätzungen des Roten Kreuzes könnte Gaza momentan lediglich 100 bis 150 Coronavirus-Fälle bewältigen.
Soziale Distanzierung ist in der kleinen Enklave kaum vorstellbar, denn Gaza ist einer der am dichtesten bevölkerten Orte der Welt. Die Mehrheit der Einwohner lebt auf engstem Raum in Flüchtlingslagern, was ein Minimum an Hygiene- und Infektionskontrolle zu einer enormen Herausforderung macht.
Gaza am Rand des Abgrunds
"Gaza steht am Rand eines Abgrunds", betont Aseel Baidoun, Beratungs- und Kommunikationsbeauftragte der medizinischen Hilfsorganisation Medical Aid for Palestinians (MAP), voller Sorge. "Der Gesundheitssektor erlebte dort nicht nur drei verheerende Kriege gegen Israel, sondern auch weitere Militärschläge während der Proteste im Rahmen des 'Großen Marsches der Rückkehr'. Und durch die illegale Blockade hat sich die Lage noch deutlich verschärft."
Die Hamas-Behörden in Gaza haben einige Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des neuen Virus unter Kontrolle zu halten. Unter anderem wurden bis auf weiteres alle Moscheen, Schulen, Universitäten, Märkte, Restaurants und Veranstaltungsräume geschlossen. Bürger, die über die israelische und ägyptische Grenze ins Land zurückgekehrt sind, werden seit dem 15. März in einem der 27 speziellen Quarantänezentren festgehalten, zu denen auch Gesundheitseinrichtungen, Schulen oder Hotels zählen. Die Quarantänezeit wurde kürzlich von zwei Wochen auf 21 Tage erhöht.
"Als ich von den ersten Coronavirus-Fällen hörte, geriet ich in Panik", berichtet Rana Shubair, eine Schriftstellerin und Aktivistin aus Gaza. "Ich wusste, dass ein einziger Fall reichen würde, damit sich die Seuche wie ein Lauffeuer ausbreitet. Glücklicherweise ist die Lage derzeit unter Kontrolle, aber die Menschen sind immer noch besorgt", beschreibt sie die Lage.
Isolation ist nichts Neues
[embed:render:embedded:node:39733]Seit die Hamas im Jahr 2007 die Kontrolle in Gaza übernommen hat, steht das Gebiet auf dem Land-, See- und Luftweg unter israelischer Belagerung. Die Bewegungsfreiheit der Menschen ist stark eingeschränkt, Importe wurden begrenzt und Exporte verboten. Außerdem kontrolliert Israel wichtige Sektoren wie die Strom- und Wasserversorgung. Nicht nur kommt es immer wieder zu Benzinengpässen und Stromausfällen, auch das Wasser ist verschmutzt, was das tägliche Leben im eingeschlossenen Gazastreifen zu einem Alptraum macht. Nach drei großen israelischen Militärangriffen ist ein großer Teil von Gazas Gesundheitsinfrastruktur beschädigt.
Ein doppelter Lockdown
Darüber hinaus schränkt die israelische Regierung auch die Einfuhr wichtiger Ausrüstung ein, die sie als "doppelt verwendbar" betrachtet, also für zivile und militärische Zwecke. Dazu gehören grundlegende Baumaterialien und medizinische Geräte, von denen angenommen wird, dass sie von der Hamas und den bewaffneten Gruppen in Gaza missbraucht werden könnten. Daher muss jede Einfuhr von Waren, die auf der Doppelverwendungsliste stehen, von den zuständigen israelischen Behörden genehmigt werden.
"Isolation ist für Gaza nichts Neues, aber noch stärker isoliert zu sein als bisher, macht die Sache sehr anstrengend", sagt die Sprecherin des Roten Kreuzes in Gaza. Sie hebt hervor, dass sich die Bewohner unter den momentanen Umständen – häufig ohne Strom und ohne Möglichkeit, über das Internet in Kontakt zu bleiben – in einem doppelten Lockdown befinden.
Die israelische Blockade hat im gesamten Gazastreifen zu einer unerträglichen Lage geführt. Bereits in einem UN-Bericht von 2012 wurde davor gewarnt, Gaza könnte bis zum Jahr 2020 unbewohnbar werden. Diese Prognose ist eingetreten, da die Bedingungen in der palästinensischen Enklave für ein nachhaltiges Leben immer abträglicher werden.
Die Weltbank schätzt, dass über 50 Prozent der Bevölkerung Gazas arbeitslos ist. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 70 Prozent, und etwa die Hälfte der Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Laut offizieller Statistiken und Angaben von Hilfsorganisationen ist bei über zwei Drittel der Haushalte die Nahrungsmittelversorgung unsicher, und lediglich drei Prozent des Wassers kann ohne Bedenken getrunken werden.
Kein Hinweis auf ein israelisches Einlenken
Was Gaza für seinen Kampf gegen die Pandemie jetzt am dringendsten braucht, sind medizinische Ausrüstung, Atemgeräte und Labor-Testsets zur Erkennung von COVID-19. Krankenhäuser, die von einer stabilen und dauerhaften Stromversorgung abhängig sind, können keine lebensrettenden Operationen mehr durchführen.
Dadurch, dass immer mehr große Generatoren verwendet werden, sind die Wartungsanforderungen gestiegen, die nur schwer zu erfüllen sind, da keine Ersatzteile nach Gaza importiert werden dürfen. Der größte Teil der medizinischen Ausrüstung ist entweder veraltet oder irreparabel defekt.
"Bereits seit Jahren arbeitet das Gesundheitsministerium unter den Bedingungen eines Ausnahmezustands. Bricht eine Pandemie aus, kann es die neuen Fälle nicht bewältigen, und so wird sich ihre Anzahl schnell vervielfachen", sorgt sich Rana Shubair.
Schon oft wurde gefordert, Israel dazu zu zwingen, die Einfuhr von Medikamenten und Gesundheitshilfen nach Gaza zu erlauben, doch es gibt gegenwärtig keine Anzeichen dafür, dass die israelische Regierung die Belagerung lockern könnte.
In einer gemeinsamen Stellungnahme letzte Woche riefen MAP und 18 israelische, palästinensische und internationale Organisationen Israel dazu auf, die Blockade Gazas zu beenden und es den Hilfsorganisationen zu ermöglichen, die Enklave schnell und sicher mit medizinischem Personal, Vorräten und Ausrüstung zu versorgen.
Alessandra Bajec
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff