Freier, aber weniger gehört?

Der Iran hat Intellektuelle und Geistliche wie Abdolkarim Soroush und Mohsen Kadivar, die einst die Debatte um eine Reform des Systems und Religion im Iran mit vorantrieben, ins Exil gezwungen. Sie haben Zuflucht im Westen gefunden, wo sie freier arbeiten, sprechen und forschen können. Doch welchen Einfluss haben sie noch im Iran? Von Urs Sartowicz

Von Urs Sartowitz

Als der Philosoph Abdolkarim Soroush Ende der 1980er Jahre in der iranischen Kulturzeitschrift Keyhan-e Farhangi eine Artikelserie über die Grundlagen der religiösen Erkenntnis veröffentlichte, trat er damit eine weitreichende Debatte los. Ein Jahrzehnt nach der Islamischen Revolution von 1979, die den Islam zur Grundlage allen politischen Handelns gemacht und den Klerus an die Spitze des Staates geführt hatte, befand sich der Islam in einer Krise, da die Fehler des Staats auf die Religion zurückfielen mit der Folge, dass sich die Gesellschaft zunehmend von ihr abwandte.

Religiöse Intellektuelle wie Soroush bemerkten damals mit Unbehagen, dass die Revolution nicht nur zu einer Islamisierung der Politik, sondern auch zu einer Politisierung des Islam und zur Vereinnahmung der religiösen Sphäre durch den Staat geführt hatte.

Die Schwierigkeiten, etwa ein modernes Arbeits- oder Mietrecht im Einklang mit den islamischen Geboten der Scharia zu formulieren, hatten zudem klargemacht, dass der Islam zumindest in seiner traditionellen Auslegung ungeeignet für die Administration eines modernen Staates war.

Irans Ayatollah Ali Khamenei sitzt unter einem Portrait Ayatollah Khomeinis; Foto: AP
Kritik und Zwischentöne unerwünscht: Die Revolution von 1979 machte den Islam zur Grundlage allen politischen Handelns und setzte einen geistlichen Klerus an die Spitze des Staates. Viele religiöse Intellektuelle äußerten sich kritisch gegenüber dieser Islamisierung der Politik und Politisierung des Islam – und mussten infolgedessen ihre Heimat verlassen.

​​Wege für eine Reform des Islams und der Scharia

In dieser Situation trafen Soroushs Theorien auf offene Ohren. Seine Unterscheidung zwischen der ewigen und unveränderbaren Religion und dem religiösen Wissen, das notwendigerweise menschlich und daher fehlbar und veränderbar ist, öffnete den Weg für eine Reform des Islam und des islamischen Rechts. In den 1990er Jahren entfaltete sich ausgehend von seinen Thesen eine lebhafte und kontroverse Debatte um Fragen der Hermeneutik und der Epistemologie, wie es sie in keinem anderen Land der islamischen Welt gab.

Zwanzig Jahre später ist davon wenig geblieben. Zeitschriften wie Kiyan, in denen beeinflusst von westlicher Philosophie und christlicher Theologie offen über das Verhältnis des Islam zu Kritik und Vernunft, Pluralismus und Demokratie diskutiert worden war, sind längst verboten. Die Hoffnung, dass die Reformbewegung aufbauend auf einer liberalen und progressiven Auslegung des Islam eine Veränderung der Politik und des Systems erreichen würde, ist zerstoben. Und viele der wichtigsten Vordenker der Reformen leben heute im Exil.

Soroush war der Erste, der ging. Nachdem infolge der Veröffentlichung eines kritischen Artikels über den Klerus seine Vorlesungen von Schlägern angegriffen worden waren, verließ er 1996 den Iran für eine längere Vortragsreise. Seit 2000 lebt er im Exil und lehrt heute an verschiedenen Universitäten in Europa und den USA. Seine Theorien hat er stetig fortentwickelt, wobei er sich nicht mit einer Neuauslegung der Scharia aufhält und auch nicht davor scheut, zentrale Grundsätze des Glaubens in Frage zu stellen.

Seine radikalste These betrifft den Koran, der seiner Meinung nach dem Propheten nicht Wort für Wort offenbart wurde, sondern den der Prophet auf Inspiration Gottes schrieb. Ähnlich wie die Bibel sei er ein menschliches Werk, das wie alle menschlichen Werke fehlerhaft sein könne.

Damit ging Soroush noch über frühere Äußerungen hinaus, wonach die Sprache und die Länge des Korans zufällig seien. Zwar öffnet er damit neue Möglichkeiten für eine Reinterpretation des Korans, doch ist fraglich, ob ihm die Mehrheit der Muslime dabei folgen wird.

Rückkehr zur Trennung von Staat und Religion

Yousefi Eshkevari; Foto: Diplomasi Iran
Dem dogmatischen Klerikern ein Dorn im Auge: Der schiitische Geistliche und Reformtheologe Yousefi Eshkevari wurde in Verbindung mit seiner Teilnahme an einer Konferenz der Böll-Stiftung in Berlin im Jahr 2000 bei seiner Rückkehr nach Teheran verhaftet.

​​Selbst Reformtheologen wie Hasan Yousefi Eshkevari gehen Soroushs Ideen zu weit. Eshkevari bleibt in seiner Lesart der Schriften der traditionellen Methode verpflichtet, auch wenn er im Ergebnis zu einer progressiven Interpretation kommt. Nachdem er auf der Iran-Konferenz der Heinrich Böll Stiftung 2000 in Berlin den Schleier als religiös nicht bindend bezeichnet hatte, war er wegen Apostasie zum Tode verurteilt worden, bevor das Urteil in fünf Jahre Haft umgewandelt wurde. Seit Entlassung aus der Haft lebt Eshkevari in Deutschland im Exil.

Heute bekennt er sich offen zu einer Trennung von Staat und Religion. Die Doktrin der absoluten Herrschaft des Rechtsgelehrten („velayat-e faqih“), die dem aktuellen System zugrunde liegt, lehnt er als religiös illegitim ab, auch wenn er aus praktischen Gründen weiter an der Idee seiner Reform festhält. In einem Interview im vergangenen Juni kritisierte er insbesondere Versuche der Anhänger von Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei, ihn in die Nähe des Mahdi, des islamischen Erlösers, zu rücken, um seinen Anspruch absoluter Macht zu rechtfertigen.

Von den Zwängen des Diskurses im Iran befreit hat sich auch der Geistliche Mohsen Kadivar, der sich im Exil offen gegen das System stellte. Von einem Sondergericht für die Geistlichkeit wegen kritischer Predigten und Interviews 1999 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, hatte Kadivar den Iran 2008 verlassen. Heute lehrt er an der Duke University in den USA. Bereits 1999 hatte er sich in einer Analyse der religiösen Grundlagen von „velayat-e faqih“ äußerst kritisch darüber geäußert. Im Exil distanzierte er sich dann ganz davon.

Gerechtigkeit als Wertmaßstab für den Islam

In Kadivars Denken kommt der Idee der Gerechtigkeit eine zentrale Stelle zu. Seiner Ansicht nach dient der Islam der Verwirklichung von Gerechtigkeit, legt selbst aber nicht fest, was genau darunter zu verstehen ist. Vielmehr bestimme das wandelbare Verständnis von Gerechtigkeit die religiösen Gebote. Kadivar argumentiert, dass die islamischen Gesetze zur Zeit des Propheten als gerecht empfunden worden seien. Da sich das Verständnis von Gerechtigkeit gewandelt habe, müssten nun jedoch auch die Gesetze – gerade bei den Frauenrechten – geändert werden.

Mohsen Kadivar; Foto: Diplomasi Iran
Ein "Robin Hood der Gläubigen": Mohsen Kadivar sieht die Aufgabe des Islam in der Verwirklichung von Gerechtigkeit. Er argumentiert, dass sich das Verständnis von Gerechtigkeit seit jeher im Wandel befinde und folglich auch das Koranverständnis den Veränderungen des Zeitgeists angepasst werden müsse.

​​In Abwendung von der Idee, dass der Islam alle Bereiche des sozialen Lebens regeln soll, tritt Kadivar für einen graduellen Rückzug des Religiösen aus der Gesellschaft ein. Anstatt veraltete Gebote durch neue Gebote zu ersetzen, will er künftig diese Bereiche dem säkularen Gesetzgeber überlassen. Zwar werde so die Sphäre der Religion reduziert, doch erlange die Religion dadurch zugleich größere Tiefe, ist er überzeugt. Ähnlich wie bei Soroush ist aber offen, ob ihm die Masse der Gläubigen folgen wird, wenn er etablierte Gebote des Islam streicht.

Bei allen Reformdenkern im Exil stellt sich zudem die Frage, welchen Einfluss sie im Iran noch haben. Werden ihre Schriften noch wahrgenommen, gelesen und diskutiert? Bücher können sie längst nicht mehr veröffentlichen, geschweige denn Vorlesungen halten. Zugleich scheint jedoch das Internet einen gewissen Ersatz für die direkte Begegnung zu bieten. Wie viele Intellektuelle und Geistliche im Iran auch haben Soroush, Eshkevari und Kadivar die Möglichkeiten des Internets erkannt und nutzen sie in vollem Umfang.

Auf ihren eigenen Webseiten dokumentieren sie alles – von Vorträgen, Interviews, Erklärungen bis hin zu ganzen Büchern und Vorlesungsreihen als Audiodatei. Gerade Kadivars Webseite gleicht einer Bibliothek. Viele ihrer Artikel im Netz werden lebhaft kommentiert und diskutiert. Ganz offenbar stehen sie auch weiterhin mit Freunden, Schülern und Anhängern im Iran in Verbindung. Auch ein Jahrzehnt nach der Schließung von Kiyan und anderen Reformzeitschriften scheint die Diskussion also zumindest in den Tiefen des Netzes weiterzugehen.

Urs Sartowicz

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de