Den Tätern ein Gesicht geben

Im Zuge der Veranstaltung "Vergangenheit ist Zukunft. Vergangenheitsaufarbeitung in Marokko und Deutschland" stellt der marokkanische Künstler Mohammed Nadrani seine Comics für eine Ausstellung in Leipzig zur Verfügung. Ines Braune berichtet

​​Mohammed Nadrani spricht aus der Perspektive des Opfers. Er erzählt aus der Zeit der "bleiernen Jahre" in Marokko unter dem früheren König Hassan II, in der es zu massiven Menschenrechtsverletzungen kam. Nadrani bleibt jedoch nicht nur Opfer, sondern wird selbst aktiv.

Comics aus den bleiernen Jahren

Als Künstler verarbeitet er seine Erlebnisse in einem Comic. Und als zivilgesellschaftlicher Akteur setzt er sich mit der Vereinigung "Forum Marocain pour la Vérité et la Justice" offen für die Opfer der Menschenrechtsverletzungen in der so genannten Wahrheitskommission ein.

Nadrani erzählt durch den Comic seine persönliche Geschichte und die ersten 480 Tage seiner neunjährigen Haft.

Ein scheinbar belangloses Detail auf einem der Bilder, nämlich das Nummernschild eines Autos, 12 4 76, gibt das Datum an, an dem er in eines der geheimen Gefängnisse ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt verschwindet. Grund seiner Festnahme waren Aktivitäten in einer marxistischen Vereinigung.

Ein Sarkophag der geheimen Gefängnisse

Er verschwindet in einem "Sarcophage du complexe". "Complexe" ist die Bezeichnung für die geheimen Gefängnisse in Marokko, mit "Sarkophag" meint Nadrani die Särge der altägyptischen Pharaonen, die darin die Reise ins ewige Leben - das Leben nach dem Tod - antreten.

"Wir, die Gefangenen haben diese Reise, diesen 'Transfer' der Pharaonen mit unserem Aufenthalt in dem Komplex verglichen. Unsere Reise ging nicht in die Ewigkeit, aber der Aufenthalt im Komplex war ein Übergang, ein Provisorium. Man weiß, dass es ein Provisorium ist und dass man danach in ein anderes Leben, in das Leben in einem Gefängnis transferiert wird, aber man weiß nicht wann", erzählt Nadrani über die Haft.

Zeichenstab aus Fäden und Kaffee

In dieser provisorischen Schwebe – eingesperrt in einer drei Mal drei Meter großen Zelle - hat Nadrani ein Kommunikations- und Ausdrucksmittel gesucht und fand es aufgrund seiner Mittellosigkeit in Fäden und Kaffee.

Mangels eines Stiftes wickelte er Fäden seiner Hose zu einem kleinen "Zeichenstab" zusammen, den er in den morgendlichen Kaffee tunkte und damit die Zellenwände bemalte:

Mohammed Nadrani in seiner alten Zelle; Photo: Mohammed Nadrani
"Ich habe von dem Kaffee, den wir morgens bekommen haben, nur die Hälfte getrunken. Die andere Hälfte habe ich zum Zeichnen aufgehoben", erinnert sich Nadri

​​"Ich habe von dem Kaffee, den wir morgens bekommen haben, nur die Hälfte getrunken. Die andere Hälfte habe ich zum Zeichnen aufgehoben", erinnert sich Nadri

Das ist der Auslöser für die Darstellung seiner Erlebnisse in Form eines Comics, den er einige Jahre nach der Haft zeichnet.

Auf den 48 Seiten des Buches zeigt er seine Geschichte, getrieben von Folter und Wahnsinn, getragen von Träumen und von Liebe.

Zeugenaussage gegen das Regime

Das letzte Bild des Comics ist das einzige reale Foto des Buches. Dort ist er zeichnend in seiner Zelle zu sehen. Entstanden ist das Foto 2001, als ehemalige Häftlinge gemeinsam mit dem arabischen Fernsehsender Al-Jazeera die geheimen Gefängnisse besuchten.

"Wir sind zurückgekehrt, um zu zeigen, dass es das wirklich gab, um es zu dokumentieren, um die Menschen aufzuklären", so Nadrani.

Sein Werk sieht Nadrani als Zeugenaussage. Es soll die Möglichkeit eröffnen, den Tätern, die während der gesamten Zeit der offiziellen Aufarbeitung nur eine geringe Rolle spielten, ein Gesicht zu geben, auch wenn ihre Namen nicht veröffentlicht wurden. Nadrani fragt, mit wem er sich versöhnen soll, wenn die Täter unerkannt bleiben.

Der Schwerpunkt der Arbeit der Wahrheitskommission, die das Ausmaß, der unter Hassan II. begangenen Menschenrechtsverletzungen publik machte, liegt auf der öffentlichen Anhörung von Opfern.

"Die Instanz für Gerechtigkeit und Versöhnung, die von Mohammad VI. ins Leben gerufen wurde, war eine Initiative, um seine Macht zu erhalten und die Kontinuität der Monarchie zu gewährleisten", argumentiert Nadrani.

Ines Braune

© Qantara.de 2006

Mohammed Nadrani wurde 1954 im Rif geboren. Er war in einer marxistisch-leninistischen Vereinigung aktiv und wurde während der Studentenproteste 1976 festgenommen. Er saß neun Jahre ohne Prozess im Gefängnis. Heute arbeitet Nadrani als Karikaturist für die arabische Tageszeitung al-Ayam.

Qantara.de

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