Wo ist Ahmed?

Samar Abd al-Majid sitzt auf einem Stuhl auf dem Märtyrer-Platz in Damaskus (Foto: Qantara | Andrea Backhaus)
Irrt ihr Sohn durch die Straßen von Damaskus? Das fragt sich die Syrerin Samar Abd al-Majid (Foto: Qantara | Andrea Backhaus)

Seit dem Sturz Assads in Syrien suchen Tausende nach ihren Angehörigen. Von den neuen Machthabern fühlen sie sich alleingelassen. Derweil werden Beweise für die Verbrechen des Regimes nur behelfsmäßig gesichert.

Von Andrea Backhaus

Als der Diktator Assad weg war, spürte Samar Abd al-Majid Zuversicht. Vielleicht, dachte sie, kann sie jetzt endlich Ahmed finden. Seit zehn Jahren ist ihr Sohn verschwunden und al-Majid hatte sich geschworen, alles dafür zu tun, um ihren Jungen nach Hause zu bringen.  

Samar Abd al-Majid ist 54 Jahre alt, trägt ein besticktes schwarzes Kleid, ein braunes Kopftuch bedeckt ihr Haar. Auf dem Märtyrer-Platz im Zentrum von Damaskus beobachtet sie das Treiben. Sie wirkt etwas verloren, wie sie dasitzt, die Handtasche umklammert, der Blick entrückt.  

Wie al-Majid haben sich auf dem Platz viele Angehörige von Verschwundenen versammelt. An eine Säule haben sie Fotos ihrer Brüder, Onkel und Väter geklebt, darauf ihre Telefonnummer, für den Fall, dass jemand die Vermissten gesehen hat.

Samar Abd al-Majid zeigt ein Foto ihres Sohnes Ahmed (Foto: Qantara | Andrea Backhaus)
Geblieben ist ein Foto von Ahmed auf dem Handy (Foto: Qantara | Andrea Backhaus)
Das Saidnaja-Gefängnis aus Vogelperspektive (Foto: Picture Alliance / Anadolu | E. Sansar)
Der Schrecken hat einen Namen: Saidnaja. In das Gefängnis bei Damaskus soll auch Ahmed gebracht worden sein (Foto: Picture Alliance / Anadolu | E. Sansar)

Auch Ahmeds Bild hängt da, ein ernst schauender junger Mann in Adidas-Jacke. „Er muss ja irgendwo sein“, sagt al-Majid. Die beiden kommen aus Hasaka im Nordosten Syriens. Ihr Sohn war 23, als Schergen des Regimes ihn mitnahmen. 

An einem Nachmittag im Jahr 2014 brachen sie die Tür von al-Majids Haus auf und nahmen Ahmed mit, so erzählt sie es. „Sie sagten, er sei ein Terrorist. So nannte das Regime jeden, der sich nicht unterwarf.“ Sie brachten Ahmed nach Damaskus.  

Sie habe Beamten Geld gegeben, erzählt al-Majid, damit sie ihr sagen, wo Ahmed sei. Im Gefängnis Saidnaja, hätten sie ihr geantwortet. Sie habe gebettelt, ihn besuchen zu dürfen, vergeblich. „Sie sagten, ich solle nicht mehr nach ihm fragen, aber eine Mutter hört doch nicht auf, nach ihrem Sohn zu suchen.“ Deswegen ist al-Majid jetzt nach Damaskus gekommen.  

Der Horror tritt zutage

Wie al-Majid geht es derzeit vielen Syrerinnen und Syrern. Sechs Wochen ist es her, dass die Rebellen unter Führung der islamistischen Miliz Hai'at Tahrir al-Sham, kurz HTS, Syrien eingenommen und das Assad-Regime gestürzt haben.  

Die Euphorie ist noch immer zu spüren. Aus den Radios dröhnen Songs über das freie Syrien, überall hängt die Fahne der Revolution, grün-weiß-schwarz mit drei roten Sternen. 

Doch trotz der Freude über das Ende der Tyrannei sind es für viele auch schmerzhafte Tage. Mit jeder Woche tritt etwas mehr von dem Horror der vergangenen Jahre, ja Jahrzehnte zutage. Die barbarische Gewalt, sie war das zentrale Herrschaftsinstrument von Baschar al-Assad und seinem Vater Hafez, die Syrien 54 Jahre lang beherrschten.  

Vor allem während der 13 Kriegsjahre ging das Regime grausam gegen jene vor, die sich nicht fügten. Mehr als eine halbe Million Menschen wurden getötet, mindestens hunderttausend weitere verschwanden. Selbst wer nicht politisch aktiv war, geriet ins Visier der Geheimdienste und Staatssicherheit.  

Männer, Frauen und Kinder wurden auf dem Weg zur Arbeit, nach der Schule, auf Demonstrationen verschleppt und in Foltergefängnisse gebracht, die es überall gab, oft unter der Erde. In Damaskus sagte man, man spaziere auf den Köpfen der Gefolterten.  

In Syrien kennt fast jeder jemanden, der in den Kerkern des Regimes gelandet ist. Die wenigsten kamen lebend raus. Es gibt Hinweise, dass Leichen mit Säure aufgelöst oder verbrannt wurden. Andere wurden irgendwo verscharrt.  

Im ganzen Land werden jetzt immer neue Massengräber ausgehoben, vor allem in Damaskus. In einigen sollen mehr als hunderttausend Leichen sein. Und viele Angehörige wollen nur eines: Gewissheit. Sie suchen in den Krankenhäusern und Leichenhallen. Einige graben mit bloßen Händen nach ihren Liebsten.

Auf der Suche nach den Toten aus Saidnaja

In Adra, einem Vorort nördlich von Damaskus, steht Ali Hamoud am Rande einer ausgedörrten Wiese, so groß wie zwei Fußballfelder, und deutet auf ein paar Löcher im Boden. „Da haben sie gebuddelt“, sagt er.  

Hamoud, 24, khakifarbene Uniform, schwarze Balaclava, die nur die Augen erkennen lässt, ist Streifenpolizist bei HTS und patrouilliert auf dem nahen Highway. 

Früher wurde die Gegend von Milizen des Regimes bewacht. Nach Assads Sturz schaufelten Anwohner:innen einige Betonplatten frei und bargen Säcke mit menschlichen Überresten. Dass hier ein Massengrab ist, gilt als gesichert.  

Hamoud sagt, er verstehe die Verzweiflung der Familien, auch sein Onkel sei vor Jahren verschwunden. Trotzdem sage er den Leuten, sie sollten die Toten in Ruhe lassen. „Es nützt ihnen nichts, wenn sie wissen, wo die Knochen liegen.“ Noch weiß man nicht, woher die Leichen in Adra stammen. Doch Hamoud ist sicher: „Einige kamen aus Saidnaja.“ Er deutet auf einen Punkt am Horizont. „Das ist nicht weit von hier.“ 

Saidnaja: Der Name steht wie kein anderer für Assads Staatsterror. Wer dort war, konnte froh sein, wenn er gleich umgebracht wurde und nicht die brutale Folter erleiden musste, die Schläge, Vergewaltigungen, Erniedrigungen. 

Überlebende berichten, wie Inhaftierte an den Gliedmaßen aufgehängt, ihre Nägel rausgerissen wurden. Wie im Winter die eisigen Böden mit kaltem Wasser überschüttet wurden. Wie Leichen zwischen den Gefangenen verwesten.  

Von Adra schlängelt sich die Straße einen Hügel hinauf. Auf der Anhöhe thront der in den 1980er Jahren errichtete Gefängniskomplex, umgeben von Mauern, Stacheldraht, Wachtürmen.  

Als die Rebellen im Dezember eine Stadt nach der anderen einnahmen, öffneten sie die Gefängnisse und ließen die politischen Gefangenen frei. Die Bilder der Frauen und Männer, die durch die Flure von Saidnaja hasteten und die Namen ihrer Angehörigen riefen, gingen um die Welt.  

Jetzt liegt eine gespenstische Ruhe über der Anlage. Der Tross von Journalist:innen und Helfer:innen ist abgezogen, nur einige wenige Besucher:innen leuchten mit ihren Handys. 

Einige suchen in den verlassenen Zellen nach Überbleibseln ihrer Angehörigen, andere wollen diesen Ort der Finsternis einmal mit eigenen Augen sehen.  

DNA-Spuren überall

Einer von ihnen ist Bassel Sattam, der im stockdunklen Trakt für die Einzelhaft vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzt. Sattams Cousin Nemer verschwand 2013. Später erfuhr die Familie, dass er in Saidnaja ist.  

Sattam konnte seinen Cousin kurz besuchen. Nemer habe ihm gesagt, die Wärter würden ihn bald töten, denn jeder, der Besuch bekäme, würde danach umgebracht. Später fand die Familie Nemers Namen tatsächlich auf einer Totenliste. Sattam will diesen Ort nun sehen, den sein Cousin nicht mehr verlassen konnte. Und versuchen, „das Unbegreifliche zu begreifen“.

Trakt im Saidnaja-Gefängnis, Syrien (Foto: Picture Alliance | D. Butzmann)
Trakt im Saidnaja-Gefängnis, Syrien (Foto: Picture Alliance | D. Butzmann)
Bassel Sattam im Trakt für die Einzelhaft im Saidnaja-Gefängnis, Syrien (Foto: Qantara | Andrea Backhaus)
Bassel Sattam wollte Saidnaja mit eigenen Augen sehen (Foto: Qantara | Andrea Backhaus)

Wie viele Menschen nach Saidnaja verschleppt wurden, ist unklar. Die Vereinigung der Gefangenen und Vermissten des Saidnaja-Gefängnisses, ADMSP, schätzt, dass allein zwischen 2011 und 2018 mehr als 30.000 Gefangene dort ums Leben gekommen sind, durch Tötungen oder infolge von Folter, mangelnder medizinischer Versorgung oder Hunger.  

Nach Assads Sturz wurden nur ein paar Tausend Überlebende gefunden. Wo die vielen Toten sind und wer ihren Tod zu verantworten hat – darauf wollen viele jetzt Antworten. Doch die zu finden, ist schwierig. 

Das Regime hatte die Vorgänge in seiner Tötungsmaschine zwar akribisch dokumentiert, doch als absehbar war, dass Assad die Macht verlieren würde, begannen seine Unterstützer hektisch, Dokumente zu vernichten. Die Gefängnisaufseher entwendeten und verbrannten Namenslisten, Aufzeichnungen der Überwachungskameras, USB-Sticks.  

Das Beweismaterial, das es noch gibt, liegt nun völlig ungeschützt da. In Saidnaja stapeln sich in den einstigen Büros der Gefängnisleitung Papiere auf dem Boden, einsehbar für alle, die dort ein- und ausgehen. Es gibt unzählige DNA-Spuren, die gesichert und untersucht werden müssten. Allein: Das tut dort niemand.

Die Weißhelme allein schaffen es nicht

Die Übergangsregierung hat versprochen, sich um die Aufklärung der Verbrechen des geschassten Regimes zu kümmern. Gerade war eine Delegation des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Damaskus und hat Unterstützung zugesagt. Doch noch ist nichts darauf gefolgt. Und der Ruf von Angehörigen und Expert:innen wird lauter, die Beweissicherung einheitlich und in großem Umfang anzugehen.  

Im Moment versuchen Freiwillige wie die Mitglieder der Weißhelme, des syrischen Zivilschutzes, die Spuren zu dokumentieren, so gut es eben geht. Die Weißhelme wurden im Krieg berühmt, als sie nach Luftangriffen des Regimes auf Oppositionsgebiete Zivilist:innen aus den Trümmern zogen.

Jetzt schauen sie in den Haftanstalten, ob die Gefangenen Namen oder Zeichnungen in die Zellenwände geritzt haben, die Rückschlüsse auf ihre Identität geben könnten. Bei den Massengräbern sammeln sie ein, was sie auf der Oberfläche finden, freiliegende Knochen etwa, die sie an ein forensisches Labor schicken. Sie appellieren an die Angehörigen, nicht selbst nach Überresten zu graben, sondern auf die Profis zu warten.  

Eine Vertreterin der Weißhelme sagt auf Qantara-Anfrage: Die Identifizierung der Toten sei ohne Hilfe internationaler Expert:innen nicht zu schaffen. Syriens neue Regierung müsse sich mit ihren Partnern und NGOs auf einen Rahmen einigen, der es ermögliche, Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht herzustellen. Die Angehörigen bräuchten Antworten. Und jeden Tag gingen wichtige Beweise verloren, die es brauche, um die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen. „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.“ 

Zurück auf dem Märtyrer-Platz im Zentrum von Damaskus bei Samar Abd al-Majid. Sie habe schon überall nach Ahmed geguckt, sagt sie. Sogar Vertreter von HTS habe sie angefleht, seinen Namen zu notieren. Doch die hätten sie nur von einer Abteilung zur nächsten geschickt.

„Keiner wollte mir helfen“, sagt al-Majid. Jeden Tag laufe sie durch die Straßen und zeige Passanten Ahmeds Foto. Vielleicht habe er ja seinen Verstand verloren und irre durch die Stadt. Al-Majid sagt, sie werde nicht aufhören, nach Ahmed zu suchen. Sie ist sicher, dass ihr Sohn noch lebt. „Eine Mutter spürt das.“  

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