Protest, Liebe, Alltag – Streifzug durch die arabische Comicszene

Reinhard Kleist gehört heute zu den herausragenden deutschen Comiczeichnern und hat auf zahlreichen Reisen durch die arabische Welt spannende Einblicke in die dortigen Comicszenen gewonnen.

Herr Kleist, Ihr Comicband "Der Traum von Olympia" ist 2017 beim Kairoer Verlag Sefsafa in arabischer Übersetzung erschienen. In welchen arabischen Ländern hatten Sie Gelegenheit, die Comicszenen und Ihre Zeichnerinnen und Zeichner näher kennenzulernen?

Reinhard Kleist: Besonders in Ägypten, Jordanien, Algerien und im Sudan. Ich habe dort Workshops gemacht und mich viel mit den Zeichnern und ihren schwierigen Bedingungen für Publikationen unterhalten. Eigentlich kann kaum einer vom Zeichnen leben, viele arbeiten für die Werbung oder für Game- oder Webdesign. Mich hat es sehr gefreut zu sehen, dass es sehr viele Ähnlichkeiten gibt, in dem, was die Menschen wollen und gut finden. Überall auf der Welt.

In Algier findet jährlich ein Comicfestival statt. Dort gibt es auch "Cosplay"-Wettbewerbe, und ich sah algerische Jugendliche als "Naruto" verkleidet herumlaufen, genau wie bei uns. Im Sudan gibt es eine Gruppe junger Künstler, die trotz der widrigen Umstände ein Comicmagazin herausgeben. Es heißt Kanon und ist eine verlegerische Meisterleistung, da es im Sudan so gut wie keine Buchkultur oder gute Druckereien gibt. Aber sie geben nicht auf. Das bewundere ich sehr.

Worin sehen Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen europäischen und arabischen Comicszenen?

Kleist: Es gibt eine starke Auseinandersetzung mit politischen Themen, die aber oft sehr versteckt dargestellt werden. Ich denke, es gibt sehr oft eine Schere im Kopf wegen einer drohenden Zensur. Aber genauso oft sehe ich den Wunsch nach Flucht aus dem Alltag, eskapistische Geschichten, die einen die raue Realität vergessen machen wollen. Ein Mädchen im Sudan zeigte mir ihre Comics im Manga-Stil mit Liebesgeschichten zwischen Figuren, die asiatisch aussahen und auch asiatische Namen trugen. Meine Frage, wo sie selbst denn in diesen Geschichten wäre, hat sie nicht verstanden.

Das Publikum zu erreichen ist natürlich sehr schwierig, da es wenig Läden gibt und in vielen Fällen die jungen Menschen kaum Geld übrig haben, um einen Comic zu kaufen. Das Publikum ist wirklich eher jung. In Europa ist der Comicleser inzwischen deutlich älter geworden, was mit der Verbreitung der Graphic Novel zu tun hat. In den arabischen Ländern, in denen ich gewesen bin, ist es eher Jugendkultur und orientiert sich auch sehr am asiatischen Markt.

Gab es eine Begegnung, die Ihnen noch besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Kleist: In einem Workshop in Amman hatte ich eine Studentin, die zu meinem Thema "Stories aus dem Alltag" eine kurze Geschichte gezeichnet hatte. Sie handelte von den Protesten, die zu jener Zeit freitags in den Straßen von Amman stattfanden. Auf den Seiten sah man einen Demonstranten und einen Polizisten, die sich auf der Demo gegenüber standen. Dann folgte man den beiden auf ihrem Weg nach Hause, und es stellte sich heraus, dass beide in demselben Haus wohnten, in dasselbe Zimmer gingen und sich zum Schlafen hinlegten: Der eine neben sich ein Schild von der Demonstration, der andere neben sich seinen Schlagstock. Sie waren Brüder. Diese Geschichte erzählte sehr viel über die Zerrissenheit der Gesellschaft und auch darüber, dass junge Leute sich keine eigene Wohnung leisten können.

Wie sind Sie auf die Geschichte der Samia Yusuf Omar ("Der Traum von Olympia") gestoßen? Wie haben Sie die Ästhetik dieses Bandes entwickelt?

Kleist: Ich bin auf die Geschichte bei der Recherche zu einem einmonatigen Künstlerresidenzprogramms des Goethe-Instituts Palermo gestoßen, wo ich mich mit der Situation von Flüchtlingen aus Afrika beschäftigen wollte. Sie hat mich sofort wegen ihrer emotionalen Wucht gefesselt. Ich habe aber erst nach meinem Aufenthalt in Palermo mit der Arbeit anfangen können. Ich habe viel mit Flüchtlingen aus Afrika gesprochen, die mir ihre Geschichten erzählt haben. Außerdem habe ich mit Samias Schwester, die in Helsinki wohnt, gesprochen, die mir viele Details aus dem Familienleben und von Samia als Person erzählte.

Für die Zeichentechnik habe ich mich für einen sehr klaren, einfachen Stil entschieden, der die Handlung transportieren soll, sich aber künstlerisch zurückhält. Ich wollte mich voll und ganz auf die Handlung und die Figuren konzentrieren.

Wie waren die Reaktionen auf diesen Band?

Kleist: Nachdem der Comic erschienen ist, habe ich sehr tolle Veranstaltungen zu dem Buch gemacht, besonders viele mit Schulkindern. Ich hatte etwas Angst gehabt, dass ich als männlicher, 40 plus, weißer Europäer nicht den richtigen Ton gefunden hätte für die Geschichte über ein Mädchen aus Somalia. Aber das scheint unbegründet gewesen zu sein.

Im Sudan hatte ich einen ganz besonderen Abend zu dem Buch im Goethe-Institut Khartum und habe dort sehr schöne Reaktionen bekommen. Es gab auf der Dachterrasse eine Buchvorstellung und ein Live Drawing Konzert mit sudanesischen Musikern. Eine Sängerin hatte extra für den Abend ein Lied für Samia geschrieben. Das hat alle im Publikum zu Tränen gerührt. Was mich am Meisten freut ist aber, dass Samias Schwester das Buch sehr mag. Sie hat sich auch sehr gefreut, als ich ihr von der arabischen Ausgabe erzählt habe, und dass Samias Geschichte immer weiter erzählt wird.

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