Nicht vom Mars
Rawand Issa zeichnet dicke Linien und kommt nicht vom Mars. Die 26-Jährige Libanesin drückt in ihren Comics das aus, was sie fühlt. Das geht am besten mit einem schwarzen Stift, den sie fest aufs Papier drückt. Denn Rawand fühlt sich oft ängstlich, wütend oder unverstanden – fast so, als käme sie von einem anderen Planeten.
Nach fünf Jahren als Journalistin merkte Issa, dass sie Geschichten besser in Comicform erzählen kann. Ihre ersten Charaktere waren keine Superheld*innen, sondern syrische Geflüchtete. "Ich war verärgert, denn 2015 gab es viel Rassismus gegen syrische Geflüchtete und ich wollte etwas dagegen sagen. Ich fand nicht die richtigen Worte und wollte es daher auf einem einfachen Weg versuchen. Also entschied ich mich für die Dokumentation in Comicform – kein einfaches Thema, um damit als Künstlerin zu starten."
Die Lust auf visuelle Darstellungen kommt auch aus ihrer Kindheit in Jiyé: "Ich stamme aus einem kleinen Dorf. Die Leute dort lesen nicht gerne Zeitung, mögen aber Magazine und alles Visuelle", berichtet Radwand. Ihr Umzug aus El-Jiyé nach Beirut war für sie zunächst aufregend. "Denn wenn du aus einem Dorf in die Stadt ziehst, ändert sich dein ganzes Leben. Im Dorf gibt es nur das Geburtshaus, die Nachbarn, einen Supermarkt, ein Café. Ich liebe mein Dorf, doch es leben nur alte Leute dort, alles ist sehr konservativ – ich kann dort nichts machen."
Issa hatte die Hoffnung, als erfolgreiche Frau in einer Großstadt zu leben. "Kennst du den Song von Alicia Keys, in Neeew Yoork…?" Das Lied hatte sie im Kopf – aus New York wurde Beirut.
Wie ein Alien in einem neuen Umfeld
Doch als sich die erste Aufregung in ihrer neuen Welt gelegt hatte, wuchsen allmählich die Zweifel, danach kam die Depression. "Nachdem ich alles gefragt hatte, vieles wusste, ging es mir schlecht", so Radwand. "Ich war wie ein Alien in diesem neuen Umfeld. Ich sah die Welt ganz anders, dunkel und finster. Plötzlich merkte ich, dass die Welt unfair ist und ich damit alleine klarkommen muss."
So musste Radwand feststellen, dass ihre Kolleg*innen bei der Zeitung sie als junge Frau nicht ernst nehmen, dass längst fällige immer wieder Wahlen verschoben werden, die Jugend keine politische Stimme hat. "Ich fühlte mich, als sei ich die ganze Zeit ignorant gewesen. Auf einmal so viel Informationen zu bekommen, kann traumatisierend sein."
In ihrem Comic Mish Men ElMarikh (Nicht vom Mars) lässt Rawand Issa ihre Protagonistin entdecken, dass sie mit ihrer Depression nicht alleine ist. Das Comicbuch ist eine persönliche Dokumentation. "Ich habe mich selbst gezeichnet und ich rede über mich selbst, dennoch können sich viele andere Frauen damit identifizieren. Es gibt zahlreiche gemeinsame, soziale, ökonomische oder politische Probleme, mit denen ich nicht alleine konfrontiert werde. Daher auch der Titel 'Nicht vom Mars'"
Zeichnen gegen den Wahnsinn des Alltags
Rawand Issa nutzt Comics zur Dokumentation von Gefühlen. "Dokumentation ist auf einer persönlichen Ebene wichtig. Du veränderst dich sehr schnell, weil sich deine Umgebung ändert. Und wenn du das nicht dokumentierst, dann wirst du verrückt." Die Dokumentation ist auch für die Gesellschaft wichtig, meint Radwand: "Wenn ich zum Beispiel wissen möchte, was in den 1970er Jahren zur Zeit des Bürgerkriegs im Libanon passiert ist und ich über die Gefühle der Menschen von damals etwas erfahren möchte, anstatt nur darüber zu lesen, dann würde ich alles verstehen."
Die Geschichte des libanesischen Bürgerkriegs ist noch immer nicht erschlossen, das kollektive Trauma wird nur langsam aufgearbeitet. "Wir haben fünf oder sechs Geschichtsbücher im Libanon. Niemand kennt die Wahrheit. Es gibt viele Mythen über den Krieg und viele Dinge, die bis heute nicht aufgedeckt wurden. Die junge Generation ist sehr verwirrt. Wir alle haben realisiert, dass die Dokumentation wichtig ist, um zu verstehen, was passiert ist und heute passiert."
Teil des historischen Erbes ist der Umgang mit Emotionen und Bindungen. "Alles ist aufgrund des Krieges temporär. Und die Menschen im Libanon haben eines gemeinsam: Wir erwarten nicht viel. Wir werden älter und glauben, dass alles vergänglich ist: Jobs, Kredite, Liebe. Wir warten immer darauf, dass ein Desaster passiert, etwas, dass uns zwingt, zu fliehen."
Das Trauma der Kindheit überwinden
Die Traumata ihrer Kindheit verarbeitet Issa in ihrem Zine "Tagebuch eines Huhns". Darin geht es um die Hühner, die im Garten ihrer Kindheit aufwuchsen. Den Hahn im Garten hatte Issa besonders gern, spielte mit ihm, gewann ihn lieb. Doch eines Tages war er verschwunden. "Ich fragte meine Mutter: Wo ist der Hahn? Und meine Mutter antwortete: Du isst ihn gerade."
Rawands Comic stellt auch eine Art Kapitalismuskritik dar. Während manche Hühner in großen Gärten spielen, sitzen andere in Käfigen. "Wie kann ein Kind, das in einer armen Familie aufwächst, die Liebe, Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen, die es verdient? Damit es zumindest ein bisschen mental gesund aufwächst. Ich glaube fest daran, dass mit Liebe in dieser Gesellschaft umgegangen wird, als sei sie ein Stück Brot. Liebe ist nicht gleichwertig verteilt."
In Issas introspektiven Comics stecken gesellschaftspolitische Themen: Ängste, emotionale Bindungen, die Repräsentation von Frauen. Ihre Protagonistin hat dicke Augenbrauen und schwarze Locken. "So eine Protagonistin sieht man sonst kaum in Cartoons, Comics oder Romanen. Wenn jemand eine arabische Frau darstellt, dann meist auf exotische Art und Weise, eher im Stil einer Bauchtänzerin. Aber ich bin keine Bauchtänzerin!"
Julia Neumann
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