"Weswegen ich hier bin"
Nicht genug damit, was mir mein krepierendes Land an Leid aufbürdet, war ich nun auch noch außerstande, in einer Sprache, die ich nur unzureichend beherrsche, zu antworten und über Leben und Tod zu philosophieren. Ohnehin bedrängen mich Fragen zu Exil und Heimat in jedem Moment.
Der Protagonist in Ghassan Kanafanis Roman "Rückkehr nach Haifa" fragt seine Frau an einer Stelle, was Heimat für sie sei. "Heimat ist, wo all das nicht passiert", ist ihre Antwort. Und der amerikanische Schriftsteller Oliver Wendell Holmes definierte Heimat einst als einen Ort, den wir vielleicht mit den Füßen verlassen, nicht aber mit dem Herzen.
Ich wollte nicht das Todesopfer Nummer 300.000 sein
Manche denken vielleicht, es sei ihr schönes Land, das mich dazu verführt hat, hierher zu kommen, sie denken, dass mir die Aufgabe meiner Heimat leichtgefallen ist oder ich selbst schuld daran sei, dass man mir solche taktlosen Fragen stellt, wenn ich schon so leichtsinnig war, mein Land zu verlassen. Oder sie glauben, ich könnte den aufdringlichen Blicken von Mitleid oder Verwunderung einfach ausweichen.
Vielleicht denken sie auch, Flüchtling zu sein sei ja nicht weiter schlimm. Oder sie vermuten, ich sei schlicht weggelaufen, und vielleicht stimmt das ja auch, denn ich wollte nicht einfach das Todesopfer Nummer 300.000 sein. Vielleicht war es aber auch mutig von mir, ins Exil zu gehen und so dem Hungertod im eigenen Land zu entgehen. Oder es war einfach nur Verzweiflung, die mich dazu gebracht hat, hier so etwas wie einen langsamen Tod anderer Art zu erleben. Jedenfalls muss ich mich hier erbarmungslosen Fragen stellen.
Was die Fragenden aber nicht wissen, ist, dass mein Körper zwar hier, meine Seele jedoch noch nicht nachgekommen ist. Dass ich mich noch an die Träume meiner Kindheit erinnere und dass die Sehnsucht nach meinen Angehörigen nicht aus meinem Herz weichen will. Über mein Handy schicke ich ständig Grüße an jene, die dort in den Trümmern geblieben sind und denen es das Schicksal nicht vergönnt hat, dahin zu gelangen, wo ich jetzt bin.
Rastlos wie ein Nomade
All diese Fragen und Gedanken zerfleischen meine Seele mitleidslos wie eine Hyäne ihre Beute. Während ich wie ein Nomade rastlos umherziehe, frage ich mich, wie es sein kann, dass ein Land seine Bewohner in die Flucht, ins Exil und ins Meer treibt, warum es nicht genug Platz für uns hat und stattdessen zu einem Sumpf wurde, in dem sich Bakterien aus aller Welt einnisten?
Vielleicht hört mich mein Land ja, denke ich, und fegt irgendwann all den Schmutz aus seinen Straßen, die mir so vertraut waren, und kotzt all die kriegs- und machtgeilen Männer aus, die in ihm ihr Unwesen treiben. Vielleicht nimmt es uns eines Tages wieder freundlich auf und lässt uns in Ruhe unsere Kinder großziehen.
Istanbul, das Reiseziel vieler Bessergestellten dieser Welt, war für mich nur der erste Fluchtort, bevor ich noch weiter weg musste. Kurz bevor mein Flug ging, wollte ich meinen einsamen Schatten noch einmal unter Menschen bringen.
Während ich ziellos durch die Straßen lief, kam ein syrischer Junge auf mich zu. Sein Gesicht war wunderschön, aber man sah ihm an, dass er gewissenlos ausgenutzt wurde. Ob ich etwas Geld hätte, fragte er mich. Ich verneinte, da fragte er mich, ob ich vielleicht sonst etwas hätte. Ich sagte ja, ein grausames Land und das Pech, da zu sein, wo wir beide jetzt sind. Ich lief weiter, mir war, als zöge ich einen Fluss aus Tränen hinter mir her und ich verfluchte innerlich diese barbarische Welt.
Sehnsucht nach der grausamen Heimat
Könnte ich zu Syrien sprechen, würde ich sagen: In dir zu sterben war einfacher als in dir zu leben, und es wäre mir eine Gnade gewesen. Aber hier an den Ufern der Spree habe ich dennoch Sehnsucht nach dir. Obgleich statt Vögeln Jagdbomber an deinem Himmel kreisen, und obwohl du es zulässt, dass in dir Menschen sterben, weil ein Tyrann sie aushungern lässt oder in Folterkeller steckt, liebe ich dich noch immer. Die Bestialität hat in dir eine Heimstatt gefunden, und Millionen deiner Bewohner flüchten. Und mich fragt man, warum ich dich verlassen habe und mich dennoch nach dir sehne.
Hier in der Ferne jagen mir Gedanken wie Wirbelwinde der syrischen Steppe durch den Kopf. Vor Erschöpfung lasse ich mich fallen wie ein Blatt im Herbst, das des Hängens am Zweig überdrüssig geworden ist. Unfähig, dir zu helfen, richte ich meine Gebete an Gott und gedenke deiner Kinder, die in kalten Flüchtlingslagern schlafen und von streunenden Hunden belagert werden, deiner obdachlos gewordenen Frauen, die sich eine Decke mit Liebesdienerinnen teilen und deiner Bewohner, die auf der Suche nach Hoffnung an fernen Stränden Selbstmord begehen.
Die Revolution hat es nicht gut mit uns gemeint
Es ist nicht ihre Schuld, dass Großmächte nach unserem Blut gieren, dass Gott uns keine einige Opposition beschert und den Soldaten Assads zu wenig Barmherzigkeit gegeben hat.
Die Revolution hat es nicht gut mit uns gemeint. Alles kam anders als wir es wollten, trotz unserer Euphorie und der Lieder von einem Leben in Frieden und Sicherheit, wie die Massen sie sangen. Vielleicht war es ja gar nicht unsere Revolution und wir waren nur ihr Brennstoff und Appetitanreger.
Die Franzosen und die Algerier wissen wohl, was ich meine, wenn sie an ihre Geschichte denken. Wir reden heute nur anders darüber. Über Milizen zum Beispiel, die Minderjährige rekrutieren, um irgendwelche gebrechlichen Staatsgebilde zu schaffen. Und dann sind da noch wir, die Exilierten, die Fremden, die sich an Integrationsgesetze halten sollen und die Gegenstand begeisterten Mitleids sind.
Nather Henafe Alali
© Nather Henafe Alali 2016
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Dieser Beitrag erschien zuerst im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" (Nr. 19/2016).