Ein korantreuer Rebell

Der Religionsgelehrte und Journalist Tahar Haddad setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für eine modernisierte Koranauslegung ein, die erst nach seinem Tod gesellschaftlichen Einfluss erlangte. Nun liegt erstmals eine umfassende Studie über ihn in deutscher Sprache vor. Von Martina Sabra

Tahar Haddad; Quelle: www.csp.tn
"Tahar Haddad war überzeugt, dass nur wenn die Mädchen und Frauen des Landes in ihren Rechten gestärkt werden würden, Tunesien wirklich frei werden und den Übergang in die Moderne schaffen würde", schreibt Martina Sabra.

​​ Obwohl Tunesien formal eine säkulare Staatsordnung hat, spielt die Religion in vielen Bereichen der Gesetzgebung eine wichtige Rolle.

Doch das kleine nordafrikanische Land ist für sein vergleichsweise fortschrittliches Familienrecht bekannt: Frauen dürfen nicht gegen ihren Willen verheiratet werden, sie können sich genauso scheiden lassen wie die Männer und die Polygamie ist komplett verboten. Weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, dass Tunesiens frauenfreundliche Gesetze auf die Ideen des korantreuen tunesischen Religions- und Rechtsgelehrten, Journalisten und Politikers Tahar Haddad zurückgehen.

Haddad plädierte allerdings nie für eine Europäisierung der Gesellschaft, erklärt die tunesische Literaturhistorikerin Manoubia Ben Ghedahem. Im Gegenteil: "Sein Islamverständnis war ein sehr puristisches. Alles spielt sich im Rahmen der koranischen Gebote ab", so die Haddad-Kennerin. Eine Frau hatte sich seiner Ansicht nach beispielsweise nur darauf vorzubereiten, eine gute Mutter zu sein – eine berufliche Karriere für Frauen war in seiner Philosophie nicht vorgesehen.

Revolutionäre Ideen für die Gleichberechtigung

Tahar Haddad wird 1899 als Sohn eines Geflügelhändlers in Tunis geboren. Seine Ausbildung verläuft traditionell: zuerst verbringt er sechs Jahre in der Koranschule, dann studiert er neun Jahre islamisches Recht an der religiösen Hochschule in Zitouna. Nach dem Abschluss seines Studiums erhält Haddad die Zulassung als Notar. Doch den jungen ausschließlich arabischsprachigen Intellektuellen zieht es in die Politik: 1920 wird Tahar Haddad Propagandachef der tunesischen Destour-Partei, die sich für die Unabhängigkeit von Frankreich einsetzt und die für ein modernes, demokratisches, sozial gerechtes Tunesien kämpft. Er schreibt ein Buch über Arbeiterrechte und hebt die erste unabhängige Gewerkschaft des Landes mit aus der Taufe.

Parallel beschäftigt Haddad sich intensiv mit der Rolle der Frau in der tunesischen Gesellschaft. Am 5. Oktober 1930 erscheint sein Buch "Unsere Frau in der Scharia und in der Gesellschaft". Die Forderungen, die er darin formuliert, sind für die Zeit revolutionär: Gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen, die Abschaffung der Polygamie und die gleichberechtigte Ehescheidung für Männer und Frauen. Selbst gegen die damals in Tunesien übliche Ganzkörperverschleierung der Frauen bezog der Islamgelehrte Stellung.

Cover von Hajjis Studie; Quelle: Klaus Schwarz Verlag
Iman Hajji ist Islamwissenschaftlerin und Autorin der ersten umfassenden Publikation über Leben und Werk von Tahar Haddad in deutscher Sprache.

​​ "Haddad war der Auffassung, dass der Schleier zu unglücklichen Ehen führen könne. Schließlich ist die Partnersuche stark eingeschränkt, weil der Mann die Frau vorher nicht sehen kann", so Iman Hajji, Islamwissenschaftlerin und Autorin der ersten umfassenden Publikation über Leben und Werk von Tahar Haddad in deutscher Sprache. Abgesehen davon hat Haddad auch darauf hingewiesen, dass es im Koran überhaupt kein Gebot gibt, dass das Tragen des Ganzkörperschleiers vorsieht.

Tahar Haddad war überzeugt, dass Tunesien nur dann wirklich frei werde und den Übergang in die Moderne schaffe, wenn die Mädchen und Frauen des Landes in ihren Rechten gestärkt würden. Doch der Reformeifer des jungen Intellektuellen und Politikers kam bei der konservativen tunesischen Gesellschaft nicht gut an.

Rufmord und Verleumdung

"Die Reaktionen auf sein Buch waren sehr heftig, sehr aggressiv", erklärt Iman Hajji. "Er wurde von den Zitouna-Gelehrten zum Häretiker erklärt, sein Abschluss wurde ihm praktisch entzogen, und – was für seine Existenz noch viel wichtiger war – seine Zulassung als Notar." Auch die tunesische Presse führte einen Federkrieg gegen den Erneuerer. Haddad wurde der Ketzerei bezichtigt und als Analphabet verunglimpft.

Patio der Zitouna-Universität; Foto: Wikipedia/citizen59
Der Reformeifer Haddads kam bei der konservativen tunesischen Gesellschaft nicht gut an. Die Gelehrten der Zitouna-Universität erklärten ihn zum Häretiker.

​​ Nach der Publikation seines Buches wurde Tahar Haddad allerdings nicht nur verbal angegriffen, sondern auch mehrfach auf offener Straße angefeindet und überfallen. Die extreme Heftigkeit der Attacken lässt vermuten, dass die Gründe für die Angriffe nicht allein in Haddads Werk zu suchen waren. Historiker gehen heute davon aus, dass einflussreiche Kräfte in Tunis das Buch mit Absicht skandalisierten, um die Öffentlichkeit von eigenen Fehlern abzulenken.

Tahar Haddad musste sogar erleben, dass ihm – aus Feigheit oder Bösartigkeit – auch manche politische Weggefährten in den Rücken fielen. Er zog sich immer mehr zurück, brach Freundschaften und Kontakte ab. Depressionen und ein Herzleiden plagten ihn. Bereits 1935 starb Haddad. Er wurde nur 36 Jahre alt.

Posthume Rehabilitierung

Habib Bourgiba; Quelle: wikipedia
Habib Bourguiba, erster Präsident des unabhängigen Tunesien, ließ das moderne tunesische Familienrecht 1956 auf der Grundlage von Haddads Thesen ausarbeiten.

​​ Seine Ideen sind mit seinem Ableben jedoch noch lange nicht tot. Zwei Jahrzehnte später, im Jahr 1956 nahm der erste Staatspräsident des unabhängigen Tunesien, Habib Bourguiba, die Thesen von Tahar Haddad als Grundlage für die Ausarbeitung des modernsten arabischen Familienrechts aller Zeiten. So wurde beispielsweise das Polygamieverbot umgesetzt, die juristische Gleichstellung von Mann und Frau bei Scheidungen eingeführt, ebenso wie das Verbot, Minderjährige gegen ihren Willen zu verheiraten.

Nach seiner posthumen Rehabilitierung ist Tahar Haddad heute im Leben der Tunesier wieder präsent: Straßen und Kultureinrichtungen tragen seinen Namen – aus der Persona non grata wurde im Nachhinein ein Gründungsvater der Republik.

Manoubia Ben Ghedahem sieht in Tahar Haddad nach wie vor einen Pionier: "Ich glaube, dass heute niemand mehr den Mut besitzt, das zu schreiben, was dieser Mann Anfang der 1930er Jahre schrieb. Seine Reflexion war wesentlich genauer und schärfer als die Kritiken von heute. Er sagte: Eines der Prinzipien des Korans ist der Idschtihad, die individuelle Interpretation des Textes. Lasst uns ihn also anwenden! Wer wagt das heute noch?" In diesem Sinne ist Tahar Haddads Werk auch heute noch nicht abgeschlossen.

Martina Sabra

© Qantara.de 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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