"Unsere Kindheit war eigentlich völlig normal"

Gerhard Ruben und seine Eltern wanderten 1935 in die Türkei aus. Auch andere Juden fanden in der Türkei eine neue Heimat, die ihnen Sicherheit und Hilfe zusicherte.

Von Ursula Trüper

Seinen ersten Schultag in Ankara wird Gerhard Ruben wohl nie vergessen. "Das funktionierte absolut nicht", lacht er. "Ich habe überhaupt nichts kapiert." Gerhard Ruben ist Gelehrter. Bis 1992 war er Astronom an der Berliner Akademie der Wissenschaften.

Er war acht Jahre alt, als seine Eltern 1935 beschlossen, in die Türkei auszuwandern. Der Vater, Walter Ruben, Privatdozent an der Universität Frankfurt/Main, galt als "Halbjude". Nur weil er als "Frontkämpfer" eingestuft wurde, durfte er überhaupt noch Seminare halten.

Außerdem war er ein entschiedener Nazi-Gegner. Er wollte nicht abwarten, was das neue Regime als nächstes plant, und suchte nach Alternativen. Ein Bekannter empfahl ihm, in die Türkei zu ziehen. Und so wurde Walter Ruben an die neu gegründete Universität Ankara berufen, wo er die Abteilung für Indologie aufbaute.

Jüdischer Exodus aus Deutschland

Vor allem in den Städten Istanbul und Ankara bildeten sich damals große Gruppen von deutschen Nazi-Gegnern und -Verfolgten. Unter ihnen waren auch prominente Politiker und Künstler, etwa der spätere Regierende Bürgermeister von Westberlin, Ernst Reuter.

Auch die Bauhaus-Architekten Bruno Taut, Martin Wagner und Margarethe Schütte-Lihotzky, der Bildhauer Rudolf Belling, die Musiker Paul Hindemith und Eduard Zuckmayer, letzterer ein Bruder des Schriftstellers Carl Zuckmayer, um nur einige zu nennen, fanden für kürzere oder längere Zeit in der Türkei Schutz vor den Nazionalsozialisten.

Etwa tausend Emigranten kamen damals aus Deutschland in die Türkei, weil sie von rassistischer oder politischer Verfolgung bedroht waren. "Sie nahmen an, das wird vielleicht zwei, drei Jahre dauern", erinnert sich Ruben. Doch das sollte sich als Illusion erweisen. Die meisten Flüchtlinge blieben zwischen sechs und 15 Jahren in der Türkei, manche sogar länger als 20 Jahre.

Dass sie in der Türkei leben und arbeiten konnten, verdankten die deutschen Emigranten vor allem dem türkischen Regierungschef Kemal Atatürk. Der hatte nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1923 die Türkische Republik ausgerufen und dann seinem Land ein brachiales Modernisierungsprogramm verordnet. Dafür brauchte er ausländische Experten.

Da zwischen der Türkei und Deutschland bereits seit dem Kaiserreich gute Beziehungen bestanden, lag es nahe, gerade auch deutsche Experten in die Türkei einzuladen. Es war der türkischen Regierung durchaus bewusst, in welcher Zwangslage sich diese Deutschen befanden.

Ausdrücklich betonte der türkische Unterrichtsminister Reshid Galip, dass jeder, der eine Berufung in die Türkei annimmt, "ob frei, im Gefängnis oder im Konzentrationslager, als Beamter der Republik betrachtet und unter türkischem Schutz stehen werde."

Der Ariernachweis

Nach und nach verschärfte die Türkei allerdings die Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für Ausländer - wie auch die meisten anderen Länder, in die die Menschen aus dem Machtbereich der Nazis flohen. Nach 1938 – es gab angesichts des "Anschlusses" von Österreich und der drohenden Kriegsgefahr besonders viele Flüchtlinge aus Deutschland – wurde sogar für die Einreise in die Türkei ein Ariernachweis verlangt.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs versuchte die Türkei zunächst, sich aus dem Kriegsgeschehen heraus zu halten. Sie unterhielt Wirtschaftsbeziehungen sowohl mit Deutschland als auch mit den Alliierten. Doch spätestens seit 1941 sind alle ihre Nachbarstaaten in diesen Krieg verwickelt. "Das war ziemlich belastend," enrinnert sich Ruben. "Wir hatten das Gefühl, es ist nur eine Frage der Zeit, dann zieht die Wehrmacht durch die Türkei in den Kaukasus.

Sie hätten kaum Widerstand gefunden." Allen Emigranten, die sich weigerten, nach Deutschland zurückzukehren, entzog das Deutsche Reich die Staatsbürgerschaft. Auch die Rubens wurden ausgebürgert. "Haymatloz" schrieben die türkischen Behörden in ihre Behelfs-Papiere, was so viel bedeutete wie "staatenlos". 1944 trat die Türkei an der Seite der Alliierten in den Krieg ein. Alle Deutschen, ob Nazis oder Nazigegner, waren nun "feindliche Ausländer". Viele von ihnen wurden interniert, auch die Rubens.

"Wir machten damals Ferien in einem Sommerhäuschen bei Ankara, und da wurde uns gesagt: in 24 Stunden fährt der Bus, da müsst ihr mitfahren. Wir konnten nur das nötigste mitnehmen." Die Internierten wurden allerdings nicht in ein Lager gesperrt, sondern an einen Verbannungsort in Anatolien geschickt.

Nach dem Krieg mussten Menschen, die in der NS-Zeit ausgebürgert worden waren, bei der neu gegründeten BRD einen Pass beantragen. Doch sie mussten erst einmal warten. "Wenn man mir einen Pass gäbe", schreibt einer der Emigranten 1949 an Ernst Reuter, "dass ich so gut wie ein Nazi reisen könnte, wäre ich schon zufrieden." Doch das dauerte, wie bei allen Ausgebürgerten in der Türkei, noch bis zum Jahr 1951.

Ursula Trüper

© Qantara.de 2006

Literaturhinweis: Haymatloz – Exil in der Türkei 1933-45. Hg. vom Verein Aktives Museum. Berlin 2000.

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