Deutsche Nahost-Politik: Zwischen Markt und Moral
Deutschland hat ein außenpolitisches Dilemma. Nachlesbar auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Dort steht in der Beschreibung seiner Grundprinzipien, dass "die Förderung von Demokratie und Menschenrechten" zu den politischen Leitplanken gehöre. Frieden, Sicherheit, Stabilität und nachhaltige Entwicklung könne es langfristig nur dort geben, "wo demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze gelten und Menschenrechte respektiert werden".
Wenige Zeilen später heißt es aber auch, als Handelsnation habe Deutschland ein besonderes Interesse an einer effektiven Außenwirtschaftspolitik, "die Unternehmen dabei hilft, Auslandsmärkte zu erschließen und die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln zu verbessern".
Deutschland will demokratische, an den Menschenrechten ausgerichtete Werte stärken. Außerdem verfolgt es seine nationalen Interessen - wie das in der Außenpolitik weltweit die Regel ist. Für sich genommen unproblematisch. Brisant wird es, wenn beide Grundprinzipien aufeinanderprallen. Wenn Markt auf Moral trifft. Ein anscheinend kaum zu bewältigender Spagat, der insbesondere die Beziehungen zu den arabischen Staaten prägt.
Flüchtlingshilfe in größter Not
So begrüßte die Bundesregierung zwar die Demokratisierungs-Bemühungen und Massen-Proteste des mittlerweile weitgehend gescheiterten Arabischen Frühlings. Zudem prangern deutsche Politiker regelmäßig Menschenrechtsverletzungen in arabischen Ländern an - wie Folter und Inhaftierung Oppositioneller oder die Unterdrückung von Frauen. Deutschland nahm auch rund 770.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Es zeigte Herz in Zeiten größter Not, schnell und unbürokratisch.
Gleichzeitig umwirbt man Staaten wie Ägypten und Saudi-Arabien als Handelspartner: Länder, zu denen Deutschland aufgrund der miserablen Menschenrechtslage auf Abstand gehen müsste. Eigentlich. Doch besonders im Falle lukrativer Rüstungsexporte drücken Politik und Wirtschaft wohl ein Auge zu. Manchmal mehr als das, bemängeln Kritiker. Verteidiger dieses Kurses sprechen dagegen von den Möglichkeiten von Wandel durch Handel. Eine Argumentation, die vor allem die Grünen, Amnesty International oder Greenpeace ablehnen.
Dramatische Auswirkungen auf Innenpolitik
Allein schon wegen der Flüchtlingsbewegungen sind die Beziehungen zu den arabischen Staaten nach Einschätzung des Nahost-Experten Guido Steinberg von vitalem Interesse für Deutschland. "Wir haben 2015 gesehen, dass die Ereignisse im Nahen Osten insgesamt, aber auch in Nordafrika ganz dramatische Auswirkungen auf die innenpolitische Situation in Deutschland haben können", sagt der Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) der Deutschen Welle.
Aber die Bundesregierung sei sich in den meisten Fragen nicht einig. Es gebe in der deutschen Debatte sogar eine gewisse Scheu, diese Interessen zu definieren, sagt Steinberg in DW-Gespräch. "Sie werden kaum einen Politiker finden, der Ihnen sagt, unsere Interessen sind, dass nicht mehr Flüchtlinge aus diesen Ländern kommen. Und wir haben Interesse an Terrorismusbekämpfung. Und dazu brauchen wir bestimmte Voraussetzungen, aber diese Debatte gibt es in Deutschland kaum."
Drei deutsche Hauptinteressen in Nahost
Deutschland müsse deshalb seine Interessen genauer definieren. Aus Steinbergs Sicht sind die drei wichtigsten Anliegen der Bundesrepublik erstens: "eine Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen in der Region. Zweitens: möglichst viel Stabilität, um beispielsweise neue Flüchtlingsströme zu verhindern. Drittens: eine effektive Terrorismusbekämpfung."
Auch Kerstin Müller vermisst eine "stringente Außenpolitik gegenüber der arabischen Welt". Die Nahost-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) nimmt im Gespräch mit der DW vor allem die Rüstungsgeschäfte mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ins Visier: "Die Vereinigten Arabischen Emirate sind Deutschlands wichtigster Handelspartner in der Region. Deutschland pflegt sogar eine strategische Partnerschaft. Obwohl die VAE im Jemen-Krieg stark involviert sind, beziehen sie immer noch Rüstungsgüter aus europäischer und deutscher Herkunft."
Rüstungsexporte in Milliardenhöhe
Dass Deutschland offenbar wenig Scheu vor Geschäften mit schwierigen Partnern hat, belegt die Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums Anfang Januar auf eine Anfrage der Grünen. Demnach hat die Bundesregierung im Jahr 2020 Rüstungsexporte von rund 1,16 Milliarden Euro an Länder genehmigt, die in Konflikte im Jemen oder in Libyen verwickelt sind: Für Ägypten wurden Ausfuhren von Waffen und militärischer Ausrüstung im Wert von 752 Millionen Euro erlaubt. Auch nach Katar (305,1 Millionen Euro), in die Vereinigten Arabischen Emirate (51,3 Millionen Euro), nach Kuwait (23,4 Millionen Euro) und in das NATO-Mitglied Türkei (22,9 Millionen Euro) durften in größerem Umfang Rüstungsgüter geliefert werden. Außerdem wurden Genehmigungen für Jordanien (1,7 Millionen Euro) und Bahrain (1,5 Millionen Euro) erteilt.
Ebenfalls sehr kritisch sieht die DGAP-Expertin Kerstin Müller die Geschäfte mit Saudi-Arabien, die derzeit eingefroren sind. Aus Sicht von Müller zu spät. "Im Zusammenhang mit der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi stand Saudi-Arabien stark in der Öffentlichkeit. Es wurde zwar ein temporärer Rüstungsstopp verhängt. Allerdings wären meines Erachtens bereits die Beteiligung Saudi-Arabiens am Jemenkrieg und auch die eigene heimische schlechte Menschenrechtslage Grund genug, generell keine Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien zu liefern."
Dies sei nicht nur inkonsequent, sondern verstoße auch gegen die Rüstungsexport-Richtlinie der Bundesregierung selbst, wonach in Krisen und Kriegsregionen von Drittstaaten keine Rüstungsgüter geliefert werden dürften.
Schwächung der eigenen Position
"Und das ist mein politisch entscheidender Punkt", so Müller, wenn man in der arabischen Welt in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaat Gehör finden wolle, "wäre es erforderlich, sich zunächst an eigene Rechtsgrundlagen und politische Grundsätze zu halten". Deutschland schwäche seine eigene Rolle, die es in der Region haben könne, "weil die arabischen Länder natürlich auch wissen, was man beschlossen hat und was eigentlich Grundlage ist".
Auch innenpolitisch steigt der Druck, die deutsche Nahostpolitik neu auszurichten. Deutsche Außenpolitik sei zwar immer eine Abwägung zwischen Interessen und Werten gewesen, argumentiert der SWP-Forscher Guido Steinberg. Das habe sich in den letzten Jahrzehnten und Jahren aber verstärkt. "Ganz einfach deshalb, weil in der innenpolitischen Debatte die Werte an Bedeutung gewonnen haben, unter anderem durch den Aufstieg der Grünen, die einen großen Einfluss gehabt haben", sagt Steinberg.
Außenpolitische Erfordernisse dürften diesen Trend unterstützen. Mit den Bundestagswahlen Ende September geht die 16-jährige Kanzlerschaft von Angela Merkel zu Ende. Die nächste Bundesregierung wird sich auch damit befassen müssen, dass die USA gegenüber der Bundesrepublik die Zügel anziehen.
Der starke transatlantische Partner fordert immer unverblümter einen stärkeren internationalen Einsatz Deutschlands. Mehr Übernahme von Verantwortung - auch im Nahen und Mittleren Osten, wo die Bundesregierung bisher eine eher vermittelnde Rolle spielt wie im Libyen-Konflikt.
Extremwetter als Brandbeschleuniger von Problemen
Dabei steht eine existenzbedrohende Herausforderung vor der Tür, die nicht nur ein größeres Engagement Deutschlands geradezu erzwingen könnte, sondern bei deren Bekämpfung Markt und Moral Hand in Hand gehen würden: der Klimawandel. Durch sich häufende Extremwetterereignisse geraten im Nahen und Mittleren Osten immer mehr Menschen in eine dauerhafte Notlage. Nach Auffassung des Nahost-Analysten Stefan Lukas wirken die zunehmenden Extremwetterlagen oftmals als "Brandbeschleuniger bereits bestehender Probleme". Mit der Folge einer sich destabilisierenden Region und zunehmender Flüchtlingsströme in Richtung Europa.
"Und das stellt uns natürlich vor ein großes Problem. Denn wenn wir Libyen, Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten sagen, lasst bitte euer Öl im Boden, werden die natürlich schräg gucken, weil ihr Haushalt von fossilen Energieträgern abhängig ist", sagt der Gastdozent an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr der DW.
Markt und Moral auf einer Linie
"Das heißt, hier muss Europa schon aus moralischer Perspektive, aber auch aus wirtschaftlichem Eigennutz - denn der Klimawandel beeinflusst wirtschaftliche Kapazitäten - den Staaten des Nahen Ostens Ausweichmöglichkeiten geben, um Anreize zu schaffen, auch wirtschaftlicher Natur", so Lukas.
Der Wissenschaftler, der zur Sicherheitspolitik in der Golfregion und den Auswirkungen des Klimawandels forscht, hofft, dass der Klimawandel "als Möglichkeit zur multilateralen Friedensstiftung" genutzt werden kann. Gerade die Staaten des Nahen Ostens hätten ein großes Interesse, dass der Klimawandel möglichst begrenzt bliebe.
"Deshalb könnte es Ansatzpunkte geben aufgrund eines einheitlichen Umwelt- oder Klimaabkommens, eine weitergehende politische Kooperation aufzubauen", betont Lukas. "Und ich denke, da kann man eine Brücke zwischen Moral und Eigennutz bauen."
Ralf Bosen
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