Ein Ägypter in Deutschland
Das Leben in einer Handelsstadt wie Stuttgart war eine ungewohnte Erfahrung für mich. In dieser Stadt richtet sich alles nach dem Fluss des Geldes, dem Auf und Ab der Börsennotierungen. Der Lebensrhythmus dort könnte kaum verschiedener sein von einem, der durch Kunst und Kultur bestimmt wird. Voller Eifer machte ich mich also daran, die Details dieser neuen Welt zu entdecken.
Alles bestimmt die Zeit
Morgens fügt man sich in die Karawane der Angestellten ein, die an den Ampeln auf Grün wartet, um darauf die Straße zu überqueren. Dabei pflegt man, geübt den Blick von der Armbanduhr auf die Ampel zu richten. Ist man Autofahrer, so weiß man mit geschickter Beiläufigkeit eine CD in den CD-Player zu stecken, die einem das Warten vor roten Ampeln versüßen mag.
Auch gilt es, sich das tägliche Ritual der zur Gewohnheit gewordenen Gleichgültigkeit anzueignen, mit der man nach dem Tageswerk die Heimkehr antritt: Ohne auf die Umgebung zu achten, abgelenkt durch den Smalltalk über die Arbeit mit einem Kollegen, der womöglich ganz unvermittelt abgebrochen wird, wenn sich die Wege an der nächsten Kreuzung trennen, lässt man sich sodann erschöpft am Gleis einer U-Bahn-Station auf einen Sitz sinken, wieder einmal zu warten.
Dabei bringt man nicht das geringste Bedauern auf beim Anblick der Frau, vor deren Nase sich gnadenlos die U-Bahn-Türen schließen.
Warten und Angst – Angst und Warten
Die Struktur dieser Stadt reflektiert Angst und Warten oder Warten und Angst, als zwei untrennbar miteinander verbundene Komponenten, die das individuelle Leben bestimmen, wenn man ein Teil der Gleichung sein möchte, die die Stadt aufrechterhält.
Warten – legitim – auf eine Gelegenheit, die vielleicht nie kommt, Angst, eine Gelegenheit zu verpassen, die gerade erst im Entstehen ist, Angst vor dem Verlust einer relativen Sicherheit, Warten auf mehr Sicherheit oder eine alternative Sicherheit. Diese Kombination bedingt eine gewisse Kontaktlosigkeit, um eine Einheit herzustellen, die allen einen individuellen Kontakt ermöglicht.
Individualität bedeutet Einzigartigkeit, in der alle eine Einheit bilden, deren Bestandteile wie lauter Inseln sind. Als drücke sich darin die Unabhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft und umgekehrt die Unabhängigkeit der Gesellschaft von ihren Individuen aus.
Liest man die Einführung zur Quantentheorie von Planck, nach der ein Atom nur dann neutral ist, wenn sein Gesamtgewicht größer ist als die Summe des Gewichts seiner Einzelteile, kann man dieses Leben im Schutze einer solchen Lebensgemeinschaft erklären.
Die kulturellen und sozialen Komponenten dieser Gesellschaft lassen sich zusammenfassen als Wahrung eines kleinsten kulturellen Nenners, wie die Bevorzugung einer bestimmten Brotsorte an Sonntagen, die man zurückführt auf eine alte Stuttgarter Tradition.
Deutsch-türkische Kultur
Auf diese Weise wird es möglich, kulturelle und soziale Komponenten anderer Gesellschaften zu integrieren, die den Platz solcher Traditionen einnehmen, derer diese Gesellschaft verlustig wurde. Nur ein Beispiel dafür ist, wie ich es sehe, die Entstehung einer türkischen Kultur, die mit der deutschen Kultur verbunden ist. Das geht so weit, dass der türkische Döner zur berühmtesten deutschen Speise wurde.
Die Entstehung dieser deutsch-türkischen Kultur lässt bei mir einige – überwiegend persönliche – Fragen aufkommen über die Beschaffenheit dieser offenen Gesellschaft, die die Fähigkeit besitzt, den Anderen aufzunehmen und in seiner offensichtlichen Verschiedenheit zu beteiligen, so dass er in dieser Gesellschaft leben und ein Teil der deutschen Kultur werden kann. Wie weit kann diese Verschmelzung gehen und in welche Richtung?
Nach der Antwort auf diese Fragen habe ich gesucht, als ich mich auf der Reise nach Hannover befand, wo der evangelische Kirchentag stattfinden sollte. Die Zahl der Jugendlichen, die daran teilnahmen, war enorm hoch. Dabei beschränkten die jungen Leute sich auf missionarische Aktivitäten und die Unterstützung besonders hilfsbedürftiger Gruppen.
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass das Durchschnittsalter der deutschen Gesellschaft bei 45 Jahren liegt – die Zahl der jugendlichen Deutschen ist rückläufig, gleichzeitig steigt die Jugendarbeitslosigkeit. Unter ähnlichen Umständen kam es zur Verbreitung der extremistischen religiösen Strömungen im Nahen Osten.
Kann man also vom Auftreten extremistischer religiöser Strömungen in Europa, speziell in Deutschland sprechen, so denkt man sogleich an die These Huntingtons, nach der die Religiosität der Menschen an Kraft Europa gewinnen wird, wozu auch die Theorie wechselnder Zentren von Ihab Hasan passt, die ihrerseits zurückgeht auf die Philosophie Jacques Derridas.
Mit dem Verfall der Sowjetmacht in den Ländern der Sowjetunion und in Osteuropa entstanden andere Zentren, die sich durch eine eigene Art von Extremismus auszeichneten, so die konservative Rechte in den USA und die Organisation al-Qaida in Afghanistan, und in Folge entstanden (im Nahen Osten) kleinere religiöse und bewaffnete Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg.
Diese Fragen werfen neue Fragen auf, und mir bleibt nur, meine Vermutungen in folgenden Beiträgen auf ihren Gehalt zu prüfen.
Abdallah Daif
Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell
© 2005 Qantara.de
Abdallah Daif war Teilnehmer eines Arbeitskreises des Programms "Arbeitskreise der Kulturen".
Qantara.de
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