Den Konventionen trotzen
Das erste Mal begegnete man dieser Frau mit der schwarzen langen Mähne auf den Fernsehbildschirmen. Wann immer der Typ "Südländerin" in TV-Krimis gebraucht wurde, fragte man sie. Sie spielte unterdrückte Kopftuch-Trägerinnen und verhuschte Mamas mit breitem Gastarbeiter-Akzent. Wohlwissend, welche Klischees sie damit bediente, und dass sie diese im wahren Leben längst überwunden hatte.
Die wenigsten Zuschauer ahnten da, welch sprachmächtige Geschichtenerzählerin sich hinter diesen Rollen verbarg. Emine Sevgi Özdamar kennt das Gefühl, unterschätzt zu werden. Ja, sie zieht daraus sogar ihre Kraft.
Von wegen "Gastarbeiter-Literatur"!
Allein der Titel ihres Debütromans "Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus" trotzt der Konvention. Er ist fast schon selbst eine kleine Mini-Erzählung, so als sei ihr Fabulierdrang nicht zu bremsen. Damit überzeugte Emine Sevgi Özdamar auch die anspruchsvolle Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. 1991 gewann sie mit einem Auszug aus dem Buch die renommierte Auszeichnung.
Viele andere wichtige Preise - von der Carl-Zuckmayer-Medaille bis zum Kleist-Preis - folgten. Özdamar freute sich spitzbübisch über diese Ehrungen. Wie sehr hatte es sie doch gekränkt, das einige Kritiker ihre Bücher als "Gastarbeiter-Literatur" abwerteten, ja gar nicht erst ernst genommen hatten!
Dabei brachte Özdamar eine seltene Wucht in die deutschsprachige Literatur. Eine Kraft, die die Lust am Erzählen in den Mittelpunkt rückt und sich nicht um Erzählkonventionen schert.
Ihr Debüt ist dafür schon das beste Beispiel. Die Geschichte eines jungen Mädchens, die in der Türkei der 1950er und 60er Jahre aufwächst, ist eine Coming-of-Age-Story, die im tiefsten Anatolien beginnt, über Istanbul, Bursa und Ankara führt und ihren Schlusspunkt in einem Zug findet, der gen Deutschland fahren wird. Mitsamt einer jungen, rebellischen 18-Jährigen, die sich gegen alle Widerstände aufmacht, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
"Es gab nur einen einzigen Mann, der einstieg, es war der Zugleiter. Er verteilte an uns einen Plastikkrug mit Wasser, ein Paket Essen, 112 DM, die ein Teil unseres Monatslohns waren, und ein Buch. Das Buch hieß: 'Handbuch für die Arbeiter, die in der Fremde arbeiten gehen.'"
Hollywood trifft auf türkische Märchen
Hinter der Ich-Erzählerin ist deutlich die Autorin selbst erkennbar. Jene junge Türkin, die mit wenig Geld und viel Neugier aufwächst, mit ihrer Familie auf der Suche nach einer besseren Zukunft aus ihrem kleinen anatolischen Dorf in die Großstadt zieht. Zwei Welten treffen aufeinander - auf der einen Seite die bäuerlichen Traditionen, auf der anderen der westliche Lebensstil Istanbuls.
"Die Menschen in Istanbul waren die entwickelten Fotos, die man gerne an die Wände hängt, und die Menschen in Anatolien waren die Negative, die man irgendwo im Staub liegen lässt und vergisst."
Die junge Frau liebt Hollywood-Filme mit Humphrey Bogart und lauscht abends gebannt den Märchen der geliebten Großmutter. Um bedeutungsschwere Identitätsbrüche geht es in Özdamars Roman allerdings nicht. Sie beherrscht die Kunst, zwei gegensätzliche Welten miteinander zu verweben und eine ganz eigene Bildwelt zu erschaffen – archaisch und modern zugleich.
"Am Hafen pusteten die Schiffe die Leute, die von der Arbeit nach Hause eilten, als Staubwolken aus. Die Schiffe nahmen die anderen wartenden Leute auf. Ein Bauch, der seinen rausgepusteten Samen als gewachsene Kinder immer wieder hereinnahm, und im Bauch kriegten sie sofort Tee in kleinen Gläsern."
Kreative Bildsprache und ein Plagiatsverdacht
Ein poetischer Bilderfluss erschafft eine zwischen Traum und Wirklichkeit changierende fiktionale Realität. Auch Özdamars Sprache spiegelt diese einzigartige Melange: Arabische Kindergebete, türkische Redewendungen und englische Filmzitate reihen sich aneinander, ergänzen sich und entfalten einen ganz eigenen Rhythmus. Genau diese besondere Metaphorik zeichnet Emine Sevgi Özdamars Literatur aus.
Vielleicht traf es sie deshalb besonders, dass der deutsch-türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu in seinem gefeierten Roman "Leyla" viele Bilder und Stilelemente bei ihr abgekupfert zu haben schien? Er erzählt darin die anatolische Kindheit seiner eigenen Mutter, mit verblüffenden Parallelen zu ihren Büchern, besonders ihrem 14 Jahre zuvor erschienenen Debütroman. Ein Plagiatsskandal? Emine Sevgi Özdamar fühlte sich und ihr Lebenswerk kopiert. Der Heimatverlag beider Autoren, Kiepenheuer & Witsch, musste vermitteln.
Zug ins neue Leben
Für Özdamar ist Literatur immer auch Leben, Sprache nie nur Vehikel, sondern ein substanzieller Teil ihrer Persönlichkeit. Irgendwann hatte sie angefangen, auf Deutsch zu schreiben, denn ihre Muttersprache Türkisch habe während der Militärdiktatur ihre Unschuld verloren. "Die Worte waren krank geworden", wie sie es einmal ausdrückte. Die deutsche Sprache, die Sprache Brechts wurde ihre Rettung. Die 18-Jährige, die am Ende ihres Debütromans nach Deutschland aufbricht, wird irgendwann ihren Traum leben.
Wie ihre Autorin, die als Regieassistentin an der Berliner Volksbühne begann und nach einem Leben als Geschichtenerzählerin, Schauspielerin und Theaterregisseurin seit 2007 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist. Ihr Roman "Das Leben ist eine Karawanserei" jedenfalls hat es in englischer Übersetzung sogar auf die renommierte Liste der "1001 Bücher, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist" geschafft.
Aygül Cizmecioglu
© Deutsche Welle 2018
Emine Sevgi Özdamar, geboren 1946 in Malatya (Türkei), kam als 18-Jährige zum ersten Mal nach Deutschland. 1976 ging sie für eine Regieassistenz an die Volksbühne nach Ost-Berlin. Seit 1986 arbeitet sie als freie Schriftstellerin und Schauspielerin. Sie lebt heute in Berlin.