Vom barbarischen Staat zur barbarischen Gesellschaft
"Der barbarische Staat", so lautete der Titel von Michel Seurats Studie über das Syrien Hafiz al-Assads, und Seurat sollte schon bald selbst Opfer dieser von ihm untersuchten Barbarei werden, als er 1985 im Libanon entführt und ein Jahr später umgebracht wurde.
Seine Beschreibung zielte auf bestimmte Merkmale eines Staates, der in seinem Vorgehen und seiner Machtausübung nicht kontrolliert wird durch Gesetze oder institutionelle Vorgaben und sich im Verhältnis zu den eigenen Bürgern, ganz gleich, ob es sich dabei um Gegner handelt oder nicht, durch ein gewissen- und skrupelloses Verhalten auszeichnet.
Und vielleicht entscheidend ist, dass der Lebensnerv von Macht und Autorität in einem solchen Staat auf Fanatismus im Sinne eines Stammesbewusstseins beruht, und zwar in der von Ibn Khaldun definierten Bedeutung: in anderen Staaten kann solcher auch die Form von Konfessionalismus oder Tribalismus annehmen.
Der barbarische Staat als grenzübergreifendes Phänomen
Der barbarische Staat indes ist kein Phänomen, das sich auf Syrien beschränkt. Er findet sich auch im Irak und in Libyen, in abgeschwächter Form auch in Ägypten und anderen arabischen Staaten. Barbarei von staatlicher Seite ließ sich 1982 beim Massaker von Hama beobachten oder in der Anfal-Operation der Truppen Saddam Husseins und im Giftgasangriff von Halabdscha 1988.
Doch der Ort schlechthin, an dem sich die Barbarei manifestiert, ist und bleibt das Gefängnis, und nicht von ungefähr sind die Namen einiger Gefängnisse zu Meilensteinen in unseren Staaten geworden, angefangen vom syrischen Tadmur-Gefängnis über die Abu-Zaabal-Haftanstalt in Ägypten bis hin zum Hochsicherheitsgefängnis Abu Salim in Libyen und dem berühmt-berüchtigten Abu Ghreib in Bagdad.
Auch ließe sich theaterreife Zurschaustellung von Barbarei wie die landesweite Konferenz der irakischen Baath-Partei im Jahre 1979 nennen, auf der Saddam Hussein endgültig die Macht an sich riss.Während jener Konferenz kam es zur Enttarnung "verräterischer Genossen", wurden deren Geständnisse gehört und hernach ihre Hinrichtung vorgenommen – alles ohne Prozess, ja die übrigen anwesenden Delegierten wurden sogar genötigt, die Exekutionen eigenhändig durchzuführen.
Kollektiviertes Verbrechen
Ähnlich verlief die Liquidierung des libyschen Oppositionellen Abdel Salam Akhchiba im Jahr 2005, der ebenfalls ohne vorheriges Gerichtsverfahren zu Tode geschleift wurde, wobei Dutzende von Soldaten auf ihn einschlugen und traten. In beiden Fällen war es nicht nur die Ungesetzlichkeit und Abscheulichkeit, die diese Schreckensszenen ausmachte, sondern auch die erzwungene Teilnahme aller Anwesenden an dem Hinrichtungsakt, eine Kollektivierung des Verbrechens.
Eine kollektive Hetzjagd, die Ergreifung eines jungen Mannes, der halbnackt an einen Laternenpfahl gebunden und ausgepeitscht wird, oder das Eindringen in eine Wohnung, von deren Balkon wenig später das Mobiliar geworfen wird, ohne dass jemand einschritte – das alles sind keine Phantastereien, sondern reale Ereignisse, die sich in Ägypten zugetragen haben. Ereignisse, die bis vor wenigen Jahrzehnten noch unmöglich, ja undenkbar waren – und heutzutage vollkommen normal erscheinen.
Heute erleben wir, wie in Beirut gefeiert wird und man Süßigkeiten verteilt aus Freude über das Gemetzel im syrischen Al-Qusayr, ja wir werden Zeuge, wenn sogar in ein und derselben Stadt die Bewohner des Westteils von Aleppo die Zerstörung und das Sterben im Ostteil der Stadt bejubeln. Und andernorts herrschen Entzücken und Genugtuung über das Blutbad auf dem Rabi'a-al-Adawiyya-Platz in Kairo. "Fraktionen" eines Volkes feiern den Tod, der andere "Fraktionen" desselben Volkes ereilt, und machen so gemeinsame Sache mit der Barbarei des Staates, ihrer Rechtfertigung und Inszenierung.
Wie konnten wir diesen Tiefpunkt erreichen?
Ich bin der Überzeugung, eine Erklärung hierfür könnte die Beziehung sein, in der drei Dinge zueinander stehen – der Staat, die Gesellschaft und das Gesetz/die Moral.Vor dem Aufkommen des modernen Staates sorgte das traditionelle Herrschaftssystem für eine Bewahrung der "natürlichen Ordnung" der Dinge, verkörpert in der Moral und den allen Einwohnern gemeinsamen Traditionen, welche ihr Verhalten regulierten. Moral und Traditionen überlagerten sich mit dem religiösen Gesetz, das eine gesellschaftliche Angelegenheit darstellte. Die Rolle des Herrschaftssystems war mithin beschränkt auf eine Pflege der "natürlichen Ordnung" sowie auf die Gewährleistung ihres Fortbestands und ihres Erhalts.
Mit dem Beginn der osmanischen Reformen aber sollte der Staat in zunehmendem Maße versuchen, sich der Rechtsgewalt in allen Belangen zu ermächtigen, diese der Gesellschaft zu entziehen und sie zu einem Feld zu machen, das alleine ihm vorbehalten war.
Dieser Prozess erreichte seinen Höhepunkt nach dem Ende der Kolonialherrschaft, welche ihrerseits bereits zuvor die Rechtsgewalt in vollem Maße der Gesellschaft entrissen hatte, bis der Staat sogar eine Beschlagnahme der religiösen Stiftungen (Auqaf) und deren Verstaatlichung veranlasste, eben jener Auqaf, die die Unabhängigkeit der religiösen Institutionen garantiert hatten, welche über alle Angelegenheiten des religiösen Rechts und der sittlichen Gesetze gegenüber dem Staat gewacht hatten.
Die moralische Ordnung der Gesellschaft im Visier
Seine Legitimierung fand dieses Projekt in der Ideologie der Modernisierung, die den Staat als revolutionäres und fortschrittlichstes Instrument betrachtete, um die rückständische Gesellschaft zu verändern und zu erneuern. Auf dieser Grundlage nahm der Staat die moralische Ordnung der Gesellschaft ins Visier, in dem Bestreben, diese auf eine kleinstmögliche Nische zu beschränken – etwa in Form von Angelegenheiten des persönlichen Status und Familienrechtsfragen, welche der Scharia, dem religiösen Recht, überlassen blieben.
Parallel dazu gestaltete der Staat das Gesetzeswerk aus, das die Belange der Allgemeinheit regeln sollte, und erlegte diesem auf, das revolutionäre Instrument schlechthin zur Modernisierung der Gesellschaft zu sein, was wiederum bedeutete, dass die Gesellschaft in Bezug auf ihr moralisch-ethisches Wertesystem fortan nicht mehr unabhängig vom Staat sein konnte.
Dieser ganze Prozess war per se sicher nicht nur negativ, bestand sein erhofftes Ziel doch einerseits in einer Rationalisierung des Gesetzes und der Moral und andererseits in deren Überführung unter staatliche Autorität. Rationalisierung und Wachstum bildeten den Rahmen des Bildes, von dem die Theoretiker der Modernisierung träumten, die vom Idealmodell beeinflusst waren, welches die westlichen Staaten boten.
Da aber "die Berechnung des Feldes nicht der Größe der Tenne entspricht", war es unseren Staaten nicht vergönnt, irgendetwas von diesem erhofften und imaginierten Bild zu erreichen.
Im Gegenteil, der Staat verkam zu einer hässlichen Missgeburt. Denn die postkolonialen arabischen Staaten begründeten keine moralisch-rechtliche Autorität, die ihr eigenes Handeln und ihre internen Konflikte hätte kontrollieren können, da die herrschenden Eliten bei der Festigung der Säulen ihrer Hegemonie und Macht sich auf nackte Gewalt und den Fanatismus ihrer Partikulargemeinschaften stützen.
Machtbeziehungen sind zum inoffiziellen Regulativ bei der Vergabe von Einfluss und Reichtum geworden, neben einem schriftlich fixierten Gesetzeskanon, dem niemand Beachtung schenkt. Dergestalt konnte der Staat einerseits seinen Gefängnis-Aufsehern und Sicherheitsorganen freien Lauf lassen und andererseits in einen Zustand allgemeiner Korruptheit und Korrumpierung verfallen, in dem Bestechung an der Tagesordnung ist und Diebstahl sogar als tüchtig gilt.
Der arabische Staat in Auflösung
Das Erkennungsmerkmal des arabischen Staates, wie Michel Seurat es im damaligen Syrien sah, ist nicht seine Präsenz, sondern vielmehr seine Abwesenheit. Und dies, wenn wir den Staat verstehen als Ausdruck eines Gebildes, das sich um ein Gesetz organisiert, auch wenn dieses fehlerhaft, unzureichend und unrechtmäßig sein mag. In unserer gegenwärtigen Lage jedoch fehlt ein Gesetz oder jedwede andere institutionelle Form, die „fanatisches Stammesdenken“ und skrupellose Gewalt in ihre Schranken weisen könnte.
Das Tragische aber ist, dass die Gesellschaft ohne ein eigenes moralisches System zurückgelassen wurde, welches gleichbedeutend mit einer Autorität wäre, bei dem sie Zuflucht suchen könnte, um ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln und dies unabhängig und losgelöst vom Staat – insbesondere in Zeiten, da dieser sich im Zustand der Auflösung befindet oder in Agonie verfällt.
Der Inhalt von Standards und Regeln ist dabei gar nicht einmal von Bedeutung, gleichgültig, ob diese nun unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit entsprechen oder nicht. Worauf es ankommt, ist, dass es solche moralischen Maßstäbe als Referenzpunkt überhaupt gibt, und dies eben unterscheidet die vorkolonialen Gesellschaften von den postkolonialen Staaten.
Heute aber besitzen diese Gesellschaften keinerlei moralische Autorität mehr, auf die sie sich in ihrem Verhalten stützen könnten, weshalb sie in der Konfrontation mit dem Staat schon lange vollkommen entblößt und roh auftritt. Gleichzeitig aber verfügt der barbarische Staat über keinerlei Gesetz oder Moral, um die eigenen Gesellschaften zu versorgen – er hat nichts, was er ihnen geben könnte. Und somit ist es ihm gelungen, eine Gesellschaft nach seinem Vorbild und Antlitz zu schaffen.
Morris Ayek
© Qantara.de 2017
Aus dem Arabischen von Markus Lemke
Der syrische Publizist Morris Ayek studierte Wissenschaft- und Technikphilosophie an der TU München. Zuvor hat er einen Master-Abschluss in Elektro- und Informationstechnik an der TUM erwerben.