Kampf gegen die Soldaten des Lichts
Damals in Edirne ahnte noch niemand, dass der schmächtige Imam aus Ostanatolien, den das Staatliche Amt für Religionsangelegenheiten zum Predigen in ihre Stadt geschickt hatte, einer der einflussreichsten Denker der muslimischen Welt werden sollte. Gewiss, der junge Mann, der 1959 in der türkischen Provinzstadt an der Grenze zu Bulgarien und Griechenland aufgetaucht war, sprach schön und klar.
Es war ein Vergnügen, ihn anzuhören, wenn er in der Moschee darüber predigte, dass der Islam sich erneuern müsse und der Kommunismus das Erzübel der Menschheit sei. Aber wie hätte jemand vorhersehen sollen, dass Fethullah Gülen einige Jahrzehnte später an der Spitze einer mächtigen Bewegung mit mehreren Millionen Anhängern stehen sollte?
Die Gülen-Bewegung ist heute ein auf fast allen Kontinenten tätiger Weltanschauungskonzern. Finanziert durch eigene Einnahmen und Spenden reicher Unternehmer oder Gönner, betreibt sie Schulen, Akademien und andere Bildungseinrichtungen in zahlreichen Ländern zwischen den Vereinigten Staaten und Zentralasien, gebietet über Zeitungen, Fernsehsender, Beratungsfirmen, Lobbygruppen.
Allein in Deutschland gibt es etwa 300 der Bewegung nahestehende Vereine und zwei Dutzend staatlich anerkannte Privatschulen. In der Türkei hat sie ihre Anhänger in hohen Positionen bei der Polizei und im Justizwesen installiert. Als "Soldaten des Lichts" im Kampf gegen die Finsternis hat Gülen seine Anhänger einmal bezeichnet. Es ist eine mächtige Armee.
Machtkampf innerhalb der islamischen Elite
Doch ausgerechnet im Land ihrer Entstehung gerät die Bewegung in jüngster Zeit immer stärker unter Druck. Viele Jahre lang standen die "Gülenisten" an der Seite des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner im Islam verwurzelten Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Beide hatten einen gemeinsamen Gegner: das einst allmächtige türkische Militär.
Inzwischen ist die Vorrangstellung der türkischen Armee jedoch gebrochen – und das Zweckbündnis zwischen den Anhängern Erdogans und den Jüngern Gülens ist in Misstrauen, zum Teil sogar offene Feindschaft umgeschlagen. Die "Soldaten des Lichts" haben sich von Erdogan abgewandt – und er von ihnen. Während die Medien der Gülen-Bewegung, so die Tageszeitung "Zaman", weiterhin fest zu Staatspräsident Abdullah Gül stehen, dem zweiten Mann der AKP, häufen sich kritische Beiträge über Erdogan.
Hintergrund ist ein im Ausland wenig wahrgenommener Machtkampf, der dieses Mal nicht zwischen Kemalisten und der neuen islamischen Elite, sondern innerhalb der islamischen Elite selbst ausgetragen wird. "AKP und Gülen-Bewegung bezeugen, dass eine muslimische Mittel- und Oberschicht entstanden oder im Entstehen begriffen ist, die nicht mehr die politische Konfrontation mit dem kemalistischen Staat sucht, sondern ihre Anhänger in die bestehenden Staats- und Wirtschaftsstrukturen integrieren und Staat und Gesellschaft auf diese Weise allmählich umbauen will", schreibt der deutsche Türkei-Fachmann Günter Seufert dazu in einer dieser Tage erschienenen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik ("Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen? Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur").
AKP und Gülen-Bewegung vertrauten "auf die wirtschaftliche Dynamik, die die muslimisch-konservative Bevölkerung entfesselt. Beide haben, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, ihre eigene Bildungselite hervorgebracht", stellt Seufert fest, "beide teilen die Vision, den Einfluss ihres Landes in der Region und weltweit auszubauen." Jetzt, da die islamischen Verbündeten den Machtkampf gegen "Säkularisten", "Kemalisten", gegen Militär und Justiz der alten Herrschaftsschicht für sich entschieden haben, brechen Konflikte um die Aufteilung der Beute aus.
Erdogan schickt Steuerfahndung
Differenzen zwischen Erdoganisten und Gülenisten gab es schon häufiger in den vergangenen Jahren, wobei das Lager um Gülen – und manchmal auch er persönlich – meist liberalere, "modernere", "westlichere" Ansichten vertrat. Allgemein sichtbar wurde der Konflikt erstmals im Februar 2012, als ein Istanbuler Staatsanwalt den türkischen Geheimdienstchef und Erdogan-Vertrauten Hakan Fidan zu den hinter verschlossenen Türen abgehaltenen Gesprächen mit Mitgliedern der kurdischen Terrororganisation PKK in Oslo befragen lassen wollte.
Fidans Agenten hatten diese Gespräche auf Geheiß Erdogans geführt, sie waren Baustein eines Plans zur Lösung des Kurdenkonflikts. Im Februar 2012 wurde Fidan jedoch vom türkischen Spitzelchef des "Geheimnisverrats" und der "Kollaboration" mit extremistischen Kurden "bei der Gründung eines Kurdenstaates" bezichtigt. Bevor Fidan verhaftet werden konnte, schritt Erdogan ein. Der Staatsanwalt, nach landläufiger Interpretation ein Anhänger der Gülen-Bewegung, wurde versetzt, Erdogans Geheimdienstchef dagegen durch ein im Eiltempo vom Parlament gebilligtes Gesetz vor künftigen staatsanwaltschaftlichen Nachstellungen geschützt.
Ohne Zustimmung des Ministerpräsidenten kann der Chef des türkischen Geheimdienstes künftig nicht mehr von der Staatsanwaltschaft vorgeladen werden. Erdogan habe das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen seinen Vertrauten Fidan als direkten politischen Angriff auf sich gewertet – und die Gülen-Bewegung habe nicht eben starke Argumente vorgebracht, um diesen Eindruck zu entkräften, urteilt der türkische Publizist Kadri Gürsel.
Inzwischen hat Erdogan zu einem weiteren Gegenschlag ausgeholt. Bei der Boydak-Holding, einem auf Möbelproduktion und Textilherstellung spezialisierten Unternehmen, das dem Vernehmen nach zu den größten Spendern der Gülen-Bewegung gehört, rückte die Steuerfahndung zu einer Prüfung an, die gleich mehrere Jahre umfasst. Razzien der Steuerfahndung sind ein beliebtes Mittel der AKP, um aufmüpfige Unternehmer zur Räson zu bringen.
Am 13. November dieses Jahres berichtete die (zur Gülen-Gruppe gehörende) "Zaman", dass die AKP als Nächstes die sogenannten Dershanes – Nachhilfeschulen mit speziellen Vorbereitungskursen für die Hochschulaufnahmeprüfungen in der Türkei – schließen wolle. Die Aufgaben würden künftig staatlichen Schulen übertragen, hieß es. Der AKP-Abgeordnete Orhan Atalay bezeichnete die privaten Paukanstalten als quasiterroristische "Parallelstrukturen", die der Staat nicht dulden könne. Atalay sagte nicht, was allgemein bekannt ist in der Türkei: Viele diese Schulen werden von Gülen-Leuten betrieben. Für die Bewegung sind die Schulen nicht nur eine wichtige Finanzierungsquelle, sondern auch ein Rekrutierungsfeld für neue Anhänger. Dem will die Regierung Erdogan nun offenbar ein Ende bereiten.
Auswirkung auf Kommunalwahlen fraglich
Ende vergangenen Monats wurde ein weiteres Detail des Machtkampfs bekannt. Am 28. November veröffentlichte die (nicht mit der Gülen-Bewegung verbundene) Istanbuler Tageszeitung "Taraf" Auszüge aus dem ihr zugespielten Protokoll einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei vom August 2004, auf der beschlossen worden sei, gegen "reaktionäre Gruppen" vorzugehen, zu denen auch die Gülen-Bewegung gezählt wurde. Unter anderem sollten Anhänger und Einrichtungen der Gülen-Bewegung in der Türkei und im Ausland systematisch ausgespäht werden. Unterzeichnet wurden die Beschlüsse auch von Erdogan und Abdullah Gül, damals Außenminister der Türkei.
Die Authentizität des von "Taraf" veröffentlichten Protokolls wurde von der Regierung unmissverständlich bestätigt: Erdogan und der Geheimdienst reichten Klage wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen ein. Die mutmaßlich jüngste Volte in der Auseinandersetzung gab es am vergangenen Dienstag, als manche in der Türkei hinter der Festnahme von drei Söhnen von Ministern aus Erdogans Kabinett unter Korruptionsvorwürfen eine Initiative der Gülen-Bewegung vermuteten.
Der in Istanbul lebende deutsche Politikwissenschaftler Ekrem Eddy Güzeldere führt den Konflikt zwischen der muslimischen AKP und der muslimischen Gülen-Bewegung darauf zurück, dass Erdogan sich mittlerweile stark genug fühle, um auf Verbündete, die er, anders als seine Partei, nicht kontrollieren kann, zu verzichten. Zwar sei die Gülen-Bewegung in Ministerien, bei der Polizei und in der Justiz nicht zuletzt deshalb so stark geworden, weil die AKP sie zeitweilig gefördert habe. "Nach der Festigung ihrer Macht sehen die AKP und Erdogan jetzt aber immer weniger die Notwendigkeit, Partner zu haben und Allianzen zu schmieden. Sie wollen allein regieren", sagt Güzeldere.
Fraglich ist allerdings, ob der Bruch zwischen den beiden mächtigsten muslimischen Reformern der Türkei eine Auswirkung auf die Kommunalwahlen im März kommenden Jahres haben wird. Denn dass die Gülen-Anhänger, die bisher meist für die AKP stimmten, in Massen zur oppositionellen Republikanischen Volkspartei oder der Partei der Nationalistischen Bewegung überlaufen könnten, ist unwahrscheinlich. Diese im Kemalismus verwurzelten Parteien stehen nicht für jene Türkei aus frommen, dabei aber hochgebildeten Muslimen, die der Gülen-Bewegung vorschwebt.
Wahrscheinlicher ist, dass viele Gülen-Anhänger in das auch in der Türkei wachsende Lager der Nichtwähler wechseln oder unabhängige Kandidaten unterstützen werden. Da Wähler, die auf Gülens Wahlempfehlungen hören, laut den Schätzungen türkischer Demoskopen höchstens sechs oder sieben Prozent der türkischen Wählerschaft ausmachen, kann der Bruch zwischen der Regierungspartei und der wichtigsten islamischen Bewegung der Türkei Erdogans Wahlergebnis im März zwar schmälern, wird seine Macht jedoch zumindest kurzfristig nicht gefährden.
Die Gülen-Bewegung dauerhaft gegen sich zu haben wäre jedoch kein gutes Zeichen für die AKP. Die Anhänger der Bewegung sind überdurchschnittlich gut ausgebildet und untereinander bestens vernetzt. Ihre Bildungsoffensiven haben viel Gutes bewirkt. Aber der Gülen-Bewegung wohnt eben auch, wie jedem auf eine Weltanschauung ausgerichteten Zusammenschluss, das gefährliche Streben nach Wachstum inne, also nach Macht. Das immerhin hat die Gülen-Bewegung weiterhin mit Erdogan und der AKP gemein.
Michael Martens
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de