Schatten der Macht

Der türkische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Dani Rodrik kritisiert in seinem Essay den politischen Einfluss der Gülen-Bewegung in der Türkei und die Verflechtungen mit der Erdoğan-Regierung.

Von Dani Rodrik

Türkan Saylan war eine bahnbrechende Ärztin und eine der ersten weiblichen Dermatologen in der Türkei. Sie hatte sich einen Namen gemacht als Kämpferin gegen Lepra. Zugleich war sie eine zutiefst säkular eingestellte Persönlichkeit, die eine Stipendien-Stiftung zur Förderung junger Mädchen gegründet hatte, um ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen.

Im Jahr 2009 wurde ihr Haus von der türkischen Polizei durchsucht, die bei ihr Dokumente konfiszierte, welche sie angeblich mit dem nationalistischen Geheimbund "Ergenekon" in Verbindung brachten, die auf eine Destabilisierung des türkischen Staates hinwirkt.

Prozesswelle gegen Erdoğans Gegner

Saylan war zu diesem Zeitpunkt bereits im letzten Stadium ihrer Krebserkrankung und starb kurze Zeit nach diesem Vorfall. Die Anklagen gegen ihre Mitarbeiter aber wurden fortgesetzt und mündeten schließlich in eine Prozesswelle gegen zahlreiche Gegner von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Verbündeten der Gülen-Bewegung, benannt nach ihrem Gründer, dem islamischen Prediger Fethullah Gülen.

Populär und umstritten: Kritiker werfen dem Prediger Fethullah Gülen und seiner Bewegung massive politische Einflussnahme vor.

Die im Fall Sylan herangezogenen Beweise bestanden, wie in vielen anderen Fällen, aus Word-Dokumenten, die auf einem ihrer Stiftung gehörenden Rechner gefunden wurden. Als jedoch US-amerikanische Experten kürzlich das forensische Abbild der Festplatte untersuchten, machten sie eine schockierende, doch für türkische Verhältnisse leider alltägliche, Entdeckung: Die Speicherung der belastenden Dateien auf der Festplatte war erwiesenermaßen nach der letzten Nutzung des Rechners durch Mitarbeiter der Stiftung erfolgt. Da der Computer von der Polizei beschlagnahmt worden war, muss also von einem Amtsvergehen ausgegangen werden.

Ungereimtheiten und Manipulationen

Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und eine Menge Fantasterei bei den Ermittlungen bilden nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet werden. Auch in dem berüchtigten Fall des "Balyoz" genannten Plan (türkisch für Vorschlaghammer) eines Militärputsches gegen die Regierung Gül im Jahr 2003 frappierende Parallelen und Anachronismen.

So wurden etwa vorgeblich im Jahr 2003 letztmalig gespeicherte Dateien mit Microsoft Word 2007 bearbeitet. Unter den mehr als 300 Offizieren, die verhaftet wurden, ist auch mein Schwiegervater. Meine Frau und ich sind seitdem damit beschäftigt, alle Manipulationen in diesem Fall zu dokumentieren.

Die Liste der Enthüllungen und Widersprüche reicht noch viel weiter: In einem Fall stellte sich heraus, dass das Dokument, das eine Verschwörung gegen die christliche Minderheit beweisen sollte, sich in Wirklichkeit bereits in Polizeibesitz befand, bevor die Behörden es angeblich bei einem Verdächtigen fanden. In einem weiteren Fall "entdeckte" die Polizei das von ihnen gesuchte Beweismaterial, obwohl sie zu einer falschen Adresse gefahren waren und das Haus eines Marineoffiziers durchsuchten, der einen ähnlichen Namen trug wie der ihrer Zielperson.

Und doch ist keiner dieser Prozesse deswegen gekippt worden – mit Wohlwollen Erdoğans, der die Verfahren dazu nutzte, um die alte säkulare Elite zu diskreditieren und seine eigene Macht weiter zu festigen. Und was noch wichtiger ist: die Prozesse erfuhren den ausdrücklichen Rückhalt der Gülen-Bewegung.

Reshaping society? As Americans and Europeans debate the Gülen movement's role in their own societies, they should examine Turkey's experience more closely, Dani Rodrik argues

Ein Staat im Staate: die Gülen-Bewegung

Gülen lebt im selbstgewählten Exil in Pennsylvania, wo er über ein gewaltiges informelles Netzwerk von Schulen herrscht, über Think Tanks, Unternehmen und Medien, aktiv auf allen fünf Kontinenten. Seine Anhänger haben allein in den USA um die 100 Schulen gegründet, und die Bewegung gewinnt auch in Europa an Dynamik und Bedeutung, seitdem 1995 die erste Gülen-Schule in Stuttgart gegründet wurde.

In der Türkei selbst ist es der Gülen-Bewegung gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Polizei ebenso unterwandern wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz stellt sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger ungesühnt bleiben. In einem sehr gut dokumentierten Fall wurde ein hoher Offizier in einer Militärbasis, der im Auftrag der Gülen-Bewegung tätig war, dabei erwischt, wie er hohen Militärs Dokumente unterschieben wollte, um diese zu diskreditieren.

Der Militärankläger, der sich des Falles annahm, kam aber aufgrund sehr zweifelhafter Anschuldigungen bald schon selbst in Haft, während der Täter frei kam. Ein der Bewegung nahe stehender hoher Polizeikommissar, der einen Bericht geschrieben hatte, in dem die Aktivitäten der Gülen-Bewegung geschildert wurden, sah sich danach der Zusammenarbeit mit radikalen linken Gruppen bezichtigt, die er sein Leben lang bekämpft hatte. Auch er kam ins Gefängnis.

An die Schalthebel der Macht

All diese Prozesse werden von der Gülen-Bewegung genutzt, um Kritiker mundtot zu machen und die eigenen Gefolgsleute an die Schalthebel wichtiger Ämter im Land zu bringen. Ihr Ziel ist es, die türkische Gesellschaft gemäß ihrem konservativ-religiösen Bild zu formen. Vor allem die Gülen-Medien arbeiten besonders intensiv an diesem Vorhaben, indem sie über die Beschuldigten in besagten Prozessen gezielte Desinformation streuen und die Vergehen der Polizei gleichzeitig decken.

Die Beziehungen zwischen Erdoğan und der Gülen-Bewegung sind jedoch in letzter Zeit deutlich abgekühlt. Da mittlerweile die gemeinsamen Feinde faktisch aus dem Wege geräumt sind, ist der Ministerpräsident nicht mehr wie früher auf die Bewegung angewiesen. Ein Wendepunkt zeichnete sich im Februar 2012 an, als die Gülen-Anhänger versuchten, den Geheimdienstchef zu Fall zu bringen und damit eine Schaltstelle der Macht angriffen, die zu nah an Erdoğan war, als dass er dies hätte tolerieren können: Viele Gülen-Anhänger wurden daraufhin von ihren Posten in Polizei und Justiz entbunden.

Doch der Einfluss Erdoğans auf die Gülen-Bewegung hat gewiss auch Grenzen. Kürzlich wurden in Erdoğans Büro Abhörgeräte gefunden, die laut Erdoğan nahen Quellen von der Polizei dort installiert worden sein sollen. Dennoch reagierte der Premier, der ansonsten für seinen forschen Stil bekannt ist, mit bemerkenswertem Gleichmut. Sollte er bisher daran gezweifelt haben, dass die Gülen-Bewegung über Schätze an kompromittierenden Informationen verfügt, wird die Entdeckung der Wanzen diese Zweifel sicher beseitigt haben.

Dani Rodrik is a Turkish economist and Professor of Social Sciences at the Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey.

Ein politischer Morast kafkaesken Zuschnitts

Die ausländischen Medien haben sich zuletzt besonders auf das Verhalten des Ministerpräsidenten in den vergangenen Monaten konzentriert. Wenn sich aber die Türkei zunehmend in einen Morast kafkaesken Zuschnitts verwandelt, eine Republik schmutziger Tricks und surreal anmutender Verschwörungen, trägt die Gülen-Bewegung hieran gewiss einen nicht unerheblichen Anteil.

Die Kommentatoren der Gülen-Bewegung predigen über die Herrschaft des Rechts und die Menschenrechte, während in ihren Medien politisch motivierten Prozessen das Wort geredet wird. Die Bewegung preist Fethullah Gülen als Beispiel der Mäßigung und der Toleranz, während seine türkischsprachige Website seine anti-westlichen Predigten feilbietet.

Die gute Nachricht ist sicherlich, dass der Rest der Welt endlich erkennt, wie sich die politische Führung in Ankara wirklich entwickelt hat, nämlich zu einem zunehmend autoritären Regime, errichtet um eine zwar populäre, jedoch stark angekratzte Führerfigur. Und tatsächlich war wohl auch genau diese rigorose Niederschlagung der Proteste vor einigen Monaten verantwortlich dafür, weshalb Istanbul den Zuschlag der Olympiade 2020 nicht bekommen hat.

Nun aber geht es darum, auch die von Erdoğan zu trennende Rolle der Gülen-Bewegung ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu rücken, trägt sie doch einen ebenso großen Anteil an der gegenwärtigen politischen Misere des Landes. Insbesondere Amerikaner und Europäer sollten nicht nur über die Rolle der Gülen-Bewegung in ihren eigenen Ländern diskutieren, sondern auch deren Einfluss in der Türkei näher unter die Lupe nehmen.

Dani Rodrik

© Project Syndicate 2013

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de