Die Tyrannei blieb ungestraft
"Wenn das Volk dereinst begehrt zu leben, wird das Schicksal ihm beistehen." Mit dieser Gedichtzeile von Abul Qassim ash-Shabbi verjagten die Tunesier ihren Tyrannen Ben Ali vor drei Jahren. Den Ägyptern genügte die prosaischere Parole "Das Volk will den Sturz des Regimes", um damit kurze Zeit später ihrerseits einen alternden Autokraten zu stürzen.
Den Libyern musste die NATO helfen, um Gaddafi von der Macht zu vertreiben, im Jemen stellte sich Präsident Salih ein knappes Jahr lang stur, bevor er seinen Posten räumte. Selbst in Bahrain glaubte man noch an einen friedlichen Wandel durch Demonstrationen, und in Marokko und Jordanien, ja selbst in Oman, erzwangen die Proteste von 2011 zumindest Reformen.
Und wer wollte es den Menschen in Syrien damals verübeln, wenn sie nun auch ihrerseits versuchten, Veränderungen zu erreichen, ohne dass sie zunächst auch nur den Abtritt der seit 40 Jahren regierenden Assad-Dynastie verlangten? Die Islamisten wiederum waren allerorts überrascht, dass plötzlich ganz andere Leute als sie die Opposition stellten, und sie verstummten so auffällig und peinlich berührt, dass man schon glaubte, das Phantom des politischen Islam könnte sich verziehen wie Nebel in der Sonnenwärme.
Der späte Triumph der Autokraten
Heute leiden und sterben die Syrer in einem Krieg des Assad-Regimes, der in seiner Grausamkeit und Totalität die meisten anderen Kriege unserer Zeit übertrifft, der Jemen geht in einer Mischung aus Terror und Verelendung unter, in Libyen terrorisieren Milizen den Staat und die Bevölkerung, und auch Ägypten droht nach der vollständigen Restauration der alten Verhältnisse ein politisches und wirtschaftliches Scheitern. Lediglich für das Mutterland der arabischen Revolutionen Tunesien besteht noch Hoffnung, der Volksaufstand von damals könnte eines Tages doch noch in eine stabile Demokratie münden.
Das Chaos und das Scheitern von Staaten, so schlimm beides ist, ist bei alldem noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass Tyrannei nicht bestraft wurde. Die alte Leier der Despoten "Wir oder das Chaos" und "Ohne uns kommen die Islamisten an die Macht" wurde nachträglich wahr, die gestürzten Präsidenten, sofern sie noch leben, können heute lachen und man hört sie förmlich sagen: "Seht ihr? Es geht doch nicht ohne uns!"
Und das sagen auch jene, die sich wider Erwarten an der Macht halten konnten, allen voran Baschar al-Assad. Dafür bekommt er noch Zustimmung aus aller Welt, denn wenn er weg ist, dann kommen ja die Islamisten. Also macht es ja nichts, wenn er dafür im eigenen Land über 100.000 Menschen tötet, Hundertausende foltert, Millionen in die Flucht treibt und ganze syrische Städte mit Panzern und Bomben zerstören lässt. Das alles hat al-Qaida in einem solchen Ausmaß noch nicht geschafft, aber wenn ein irgendwie säkularer Präsident es tut, ist es offenbar verzeihlich.
Keine zweite oder dritte Revolution in Sicht
Angesichts einer solchen Hölle auf Erden brauchen autoritäre Dynastien am Golf oder repressive Regime im Maghreb auf absehbare Zeit keine Proteste mehr fürchten, und wo heute eine populäre Militärregierung selbst die ägyptischen Revolutionäre der ersten Stunde zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, wird sich keine zweite oder dritte Revolution erheben.
Gaddafi wurde in Libyen am Ende von Rebellen gelyncht. Ausgerechnet diese illegale Hinrichtung musste als einziges Beispiel dafür herhalten, dass jahrzehntelange Tyrannei mitunter bestraft wird und die verwackelten Aufnahmen davon waren die einzigen, die anderen Diktatoren für kurze Zeit Angst machen konnten. Aber kein arabisches Regime muss heute mehr Angst vor Aufständen haben – nach dem Irak-Desaster und angesichts der Lage in Libyen nicht einmal vor einer US-Invasion.
Die arabischen Revolutionen hätten aus vielen Gründen scheitern können, zum Beispiel daran, dass sie außer einer vagen Freiheit und Gerechtigkeit kein Programm hatten. Aber dass ihre Folgen nun ganze Länder in den Abgrund ziehen und die Tyrannei nachträglich rehabilitieren ist fast bitterer, als hätte gar kein Aufstand stattgefunden.
Das von ash-Shabbi beschworene Schicksal hat sich nicht dazu überreden lassen, den Aufbegehrenden beizustehen.
Günther Orth
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