Gezi lebt
Die Luft ist raus, so schien es zum ersten Jahrestag der Istanbuler Gezi-Proteste. Die "Republik Gezi" war wie viele andere Protestbewegungen der letzten Jahre eine Bewegung im Ausnahmezustand. Auf Dauer schien eine Fortsetzung des Widerstands gegen die Politik Erdoğans nicht möglich. Es bleibt jedoch die Frage, wie die Utopien des Zusammenlebens Eingang in den Alltag finden können.
"Gezi – Eine literarische Anthologie" ist ein Sammelband türkischer Autoren, der jüngst im Berliner binooki -Verlag erschien. Darin beschreibt die armenisch-türkische Schriftstellerin Karin Karakaşlı rückblickend die Tragweite und Wirkung des Gezi-Widerstands bis heute: "Der Gezi-Protest gab uns für eine Weile das Gefühl der Vollendung, den Zustand, nicht Zeuge einer Zeit, sondern ihr Subjekt zu sein. Dieses innere Wissen pflanzten wir uns ins Herz und so brachen wir auf. Den Tropfen zum Überlaufen tragen wir stets in uns."
Der vor drei Jahren gegründete Verlag der Schwestern Selma Wels und Inci Bürhaniye, um den sich bereits eine dynamische Szene entwickelt hat, richtet seinen Schwerpunkt vor allem auf Übersetzungen türkischer Literatur für ein deutsches Lesepublikum. Nun legt der Verlag zum ersten Mal Texte vor, die in deutscher Übersetzung erstveröffentlicht werden. Herausgegeben wurde die Anthologie von der renommierten Übersetzerin Sabine Adatepe.
Sprachlicher Kosmos des Protests
"Gezi – Eine literarische Anthologie" ist ein Essayband, in dem die Dynamik und Vielfalt der Proteste von 20 Autoren festgehalten wird – Autoren, die sowohl aus der jungen Literaturszene stammen, als auch Schriftsteller wie etwa die Bestsellerautorin Ayşe Kulin oder die "Grande Dame" der engagierten Literatur, Oya Baydar. Sie alle waren am Ort des Protestgeschehens zugegen.
Gezi – das bedeutete nicht nur Widerstand gegen eine selbstherrliche und restriktiver werdende Politik, sondern war auch ein eigener sprachlicher Kosmos voller Slogans, Symbole und neuer Metaphern, der geradezu nach literarischer Verarbeitung verlangte. Dieser Schritt wurde nun mit der jüngst herausgegebenen Gezi-Anthologie, zu der kurze Erzählungen, Fotos, essayistische Texte, Gedichte und Illustrationen gehören, unternommen.
Aus dem Schimpftiraden des türkischen Ministerpräsidenten gegen Gezi-Protestler haben sich vor allem Begriffe wie "Tschapulierer" (Marodeure) sowie "Suppentopfleute" (für die Performer, die den Protest lautstark mit Küchenutensilien unterstützt hatten) durgesetzt, aber auch das Unwort "Zweimal 50 Prozent"-Gesellschaft. Natürlich gehören sie längst nicht mehr nur Erdoğan, sondern der Demokratiebewegung insgesamt, die diese Bezeichnungen mehrfach gebrochen, ironisch und poetisch verfremdet hat. Wenn etwa ein Kater - wie in der Geschichte von Oya Baydar - "Tschapul" genannt wird, dann ist klar: das muss ein Gezi-Kater sein, einer der unbeugsamen, freiheitsliebenden Helden.
Nicht ohne meine Gasmaske
Ein Gedicht von Gökçenur Ç, das mit einer Heiratsanzeige endet, ist mit "Gasmaske, Taucherbrille, Talcid und Milch" überschrieben und benennt damit die Grundausstattung für einen Tränengaseinsatz der Polizeikräfte. Für heiratswillige Gezi-Aktivisten kommen diese Utensilien einer Mitgift gleich. Zu beachten gilt es dabei, dass es durchaus verschiedene Modelle von Gasmasken gibt. Wer auffallen will, muss sich einen Tipp beim Kellner aus der Geschichte des Satirikers Fırat Budacı holen.
Worüber interessanterweise auch Einigkeit zu herrschen scheint, ist der Umstand, dass sich zwischen Bäumen und Menschen eine gemeinsame Sprache entwickelt hat. Jene Bäume, die von der Regierung gefällt werden sollten, um Platz für ein Einkaufszentrum im neo-osmanischen Stil zu machen, und die damit den Anlass zu den Protesten gaben, fangen in mehreren Beiträgen zu sprechen an. In der Geschichte von Ayşe Kulin überlegen Platane, Weide und Linde, wie sie den Aktivisten ihrerseits helfen können, auch wenn sie selbst zum Umfallen müde sind. Wie Menschen werden sie manchmal gar geschwätzig.
In einer Geschichte von Ahmet Ümit beklagt sich dann auch ein Clochard, dass er wegen ihrer Gesprächigkeit nicht mehr schlafen kann. Im Karikaturbeitrag des Künstlers Irvin Mandel, der Bezug nimmt auf die berühmt gewordene Performance "Stehender Mann" des Tänzer-Choreographen Erdem Gündüz, gipfelt die gemeinsame Emblematik zwischen Baum und Mensch. Da sagt der eine Baum zum anderen: "Mich rührt mein Gewissen. Unseretwegen sind sechs Menschen gestorben, elf haben ein Auge verloren, Tausende wurden verletzt, Hunderte verhaftet, Dutzende verprügelt. Aber wir stehen noch an unserem Platz." Die Antwort des Kollegen: "Ich habe trotzdem Angst, sie könnten uns umlegen, weil wir hier die Aktion Stehender Baum durchführen."
Literarische Reflektion und Fiktion
Gemeinschaftssinn, Ironie, Humor und Phantasie: diese Merkmale der "Republik Gezi" kennzeichnen auch die Anthologie. Viele der Beiträge greifen auf reale Erlebnisse zurück, die literarisch reflektiert oder in fiktive Gleichnisse und Analogien münden.
Sehr schön liest sich in dieser Beziehung die Geschichte "Im Schaufenster" von Gaye Boralıoğlu, die zuletzt einen Roma-Roman im binooki-Verlag veröffentlicht hat. Hier nun steht eine Schaufensterpuppe für all jene, denen zunächst niemand zugetraut hätte, dass sie das fixe Regelwerk ihres Alltags verlassen und auf die Straße kommen würden. Aber eines Tages bricht das Glas des Fensters zur Welt und selbst die starre Puppe wird mitgerissen.
Dass dieser Strudel der Ereignisse von unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Motivationen, die dennoch ineinander mündeten, erzeugt wurde, auch das kommt in der Anthologie immer wieder zur Sprache. Herausragend aber ist die essayistische Analyse des jungen Autors Baris Uygur, der bisher mit Krimis bei binooki im Sortiment steht.
Er beschäftigt sich mit den Jugendlichen, die entscheidend bei der Gestaltung der Proteste mitgewirkt haben: "Für die meisten von uns waren sie bislang Kinder, die wir nur als 'Rücken' sahen – Kinder, die ihre ganze Zeit vor dem Computer verbrachten."
Wie diese "Rückenkinder" nun bei den Gezi-Protesten das angewendet haben, was sie durch Computerspiele und Fernsehserien gelernt haben, wie sie durch einen "Crash-Kurs im Bereich parlamentarische Demokratie" die Klientelpolitik der Regierungspartei unter die Lupe genommen haben, das findet der Autor selbst erst durch eine Weiterbildung in punkto Jugend-Medienkultur heraus.
Er nimmt die Leser anschaulich auf seine Entdeckungsreise mit und eröffnet ihnen somit auch den Sinn vieler bislang kryptisch oder schlicht banal wirkender Parolen. Der wichtigste Slogan aber, so fasst Uygur seinen Beitrag wie auch die Stimmung des ganzen Bandes zusammen, sei ein ungeschriebener: "Kein Einziger hatte No Future! an die Wände geschrieben."
Astrid Kaminski
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
"Gezi – Eine literarische Anthologie", herausgeben von Sabine Adatepe, übersetzt von Sabine Adatepe und Monika Demirel, Verlag binooki 2014, 128 Seiten