Das Kopftuch ist kein Gradmesser für Gläubigkeit
Emel Zeynelabidin ist die Tochter einer streng muslimischen, türkisch-irakischen Einwandererfamilie. Geboren in Istanbul kam sie schon früh nach Deutschland. Ihr Vater war Gründer der türkischen Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) in Deutschland und damals ein großes Vorbild für die junge Emel – nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch hinsichtlich der islamischen Lebensführung.
Für Emel Zeynelabidin war es 30 Jahre lang selbstverständlich, ein Kopftuch zu tragen und auch nach außen hin sichtbar als muslimische Frau vor allem in ihrer muslimischen Gemeinde zu wirken. Heute stellt sie sich jedoch die Frage: "Was hat Bekleidung mit dem Glauben und dem Willen Gottes zu tun?" Der Beginn der Kopftuchdebatte im Jahre 2004 war auch für die deutsch-türkische Autorin Anstoß, über ihr muslimisches Selbstverständnis und ihre Kopfbedeckung nachzudenken. Und so begann sie zu recherchieren und den Sinn des bis dahin selbstverständlichen Kleidungsstückes kritisch zu hinterfragen.
Das Kopftuch – ein Zeichen von Gehorsam und Unterwerfung
In einem Aufsatz in ihrer Artikelsammlung erklärt sie: "Das zum Symbol gewordene Kopftuch ist in der heutigen Zeit ein Zeichen von Gehorsam und Unterwerfung." Doch ist das Kopftuch wirklich ein Zeichen des Gehorsams? Emel Zeynelabidin schließt nicht aus, dass Frauen in der heutigen Zeit mit dem Tragen eines Kopftuchs Beharrlichkeit, Eigenständigkeit und Stärke ausdrücken wollen. Außerdem "definieren die Frauen sich darüber und empfinden Kopftuchtragen als abgrenzende Gruppenzugehörigkeit".
Provokant und selbstbewusst liest sich ihr Vorschlag, für Männer sollte es auch eine Uniform geben, wie beispielsweise Handschuhe, weil doch Männerhände ebenfalls attraktiv und reizvoll sein können: "Wieso sollten sich dann nicht auch Männer verhüllen? Haben Frauen keine erotischen Fantasien?". Emel Zeynelabidin fragt nach "dem Mann", vor dem sich die Frauen im 21. Jahrhundert sittsam und gehorsam verhüllen müssen und spricht fast von ihm, als handele es sich dabei um ein Wesen, das sich auf der Straße kaum beherrschen kann, wenn es eine Frau ohne Kopfbedeckung sieht.
Umso überraschter ist die Muslimin, als sie ihre eigene Erfahrung sammelt. Enttäuscht berichtet sie etwa von dem Moment, als sie das erste Mal ohne Kopftuch und mit offenem Haar über die Straße geht und ernüchtert feststellen muss, dass niemand sie anders wahrnimmt. Allerdings ist sie nun zweifellos unauffälliger als zuvor noch mit Kopftuch. Diesen eigenen Wahrnehmungsprozess beschreibt sie als Verwandlung von einer "sichtbaren Muslimin zu einer unsichtbar beobachtenden, neutralen Frau".
Furcht vor dem alles strafenden Gott
Mit ihrem Wandel ist sie vor allem in ihrem engeren Umfeld auf erheblichen Unmut gestoßen, berichtet sie. Viele kritisierten ihre Haltung, zweifelten sogar an ihrer Gläubigkeit als aufrichtige Muslima. Sie strebten stattdessen nach einem gottgefälligen Leben im Diesseits, um einer Belohnung im Jenseits näher zu kommen. Doch – genau wie der Titel ihres Buches bereits anklingen lässt – plädiert Emel Zeynelabidin genau für das Gegenteil. Sie zieht das Diesseits dem Jenseits vor. Denn die bei den meisten Muslimen vorherrschende Vorstellung eines strafenden Gottes stellt für die Autorin lediglich eine Einschüchterungstaktik dar. Sie erläutert zudem, dass sie erwachsen und zu einer Selbsterkenntnis gekommen sei, die sie gleichzeitig zu einer Gotteserkenntnis geführt habe.
In ihrer neuen Rolle als "unauffällige Muslimin" wächst sie an der "Neudefinierung des Distanzverhältnisses zu Männern" und kritisiert die "infantile Rechthaberei, wenn ein Kleidungsstück mit Religion gerechtfertigt wird".
Die überzeugte Muslimin spricht sich auch deutlich gegen ein gesetzlich festgelegtes Kopftuchverbot aus. Diese Haltung ist insofern bemerkenswert, als dass sie – trotz ihrer Überzeugung, ohne Kopftuch eine ebenso gute Muslimin zu sein –, Abstand davon nimmt, andere Frauen davon überzeugen zu wollen, die Verhüllung abzulegen. Schließlich lassen sich weder Selbstreflektion noch Freiheit von oben verordnen.
Zeynelabidins mutiger Schritt zu ihrer "Entlassung in die Unabhängigkeit" – wie sie das Ablegen des Kopftuches in ihrem persönlichen Fall bezeichnet – zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Buch. Für Zeynelabidin ist die Frage nach der Kopfbedeckung aber auch integrationsbedingt, denn "Integration beginnt mit der Bereitschaft, die Welt des anderen kennenzulernen, dies gelingt selbstverständlich nicht, wenn man sich nicht füreinander interessiert und freiwillig ausgrenzt", so die Autorin. Aus ihrer Aversion über das Tragen der Burka macht sie keinen Hehl, denn diesen Frauen bleibe ihrer Ansicht nach jegliche Art der zwischenmenschlichen Kommunikation verwehrt.
"Eine Welt ohne Reize ist langweilig"
Ausgehend von ihrer persönlichen Erfahrung beobachtet Emel Zeynelabidin eine Zunahme der Feindseligkeit gegenüber Muslimen seit den Anschlägen vom 11. September. Ihrer Meinung nach sei jedoch keine Kritik an der Religion, als vielmehr an den praktizierenden Muslimen angebracht. Denn vor allem junge Muslime können sich "den vorgefertigten Gottesbildern nur schwer entziehen" um ein eigenes Gottesverständnis zu entwickeln, wie die Autorin schreibt. Deswegen wünscht sie sich mehr Offenheit für verschiedene muslimische Lebensentwürfe und Toleranz gegenüber Andersdenkenden.
Begeistert lässt Zeynelabidin den Leser an ihrem Erlebten teilhaben. Ihre Freude am Erzählen ist auf jeder der knapp 145 Seiten ihres Buches spürbar; dabei maßt sie sich keinesfalls an, ihren Lebenswandel als Maßstab für alle Muslime zu erklären.
Trotz einiger Redundanzen in ihrer Essaysammlung schmälert dies jedoch nicht den Gesamteindruck ihres Buchs: "Erwachsen wird man nur im Diesseits" ist eine lesenswerte Lektüre, die dazu beiträgt, muslimische Lebenswelten und die Suche vieler Musliminnen nach einem Mittelweg zwischen Tradition und Moderne besser zu verstehen.
Annalena Junggeburth
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de